
© clipmedia Stephan Haberzettl in Teilen KI generiert
Mit abwechslungsreichen und spannenden Bilderwelten macht die Initiative auf das für die Erde so wichtige Thema der Kunstfreiheit aufmerksam.
Seit Dezember 2023 liegt der Abschlussbericht der Organisationsentwicklung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH vor – mit einem Fokus auf wirkungsvolle Maßnahmen gegen Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bei vollständigem Schutz der Kunstfreiheit. Eine der zentralen Empfehlungen ist die Entwicklung von zwei Codes of Conduct für die documenta und Museum Fridericianum gGmbH sowie die Künstlerische Leitung. Die Initiative #standwithdocumenta kämpft für die Kunstfreiheit der documenta und gegen politische Einflussnahmen. Mit einer Website, einem Kampagnenvideo und einer Petition lehnt sie Einschränkungen, wie die vorgeschlagenen „Codes of Conduct“, entschieden ab. Die Gruppe standwithdocumenta, bestehend aus Aliaa Abou Khaddour, Zaki Al Maboren, Michael Evers, Wendelin Göbel, Stephan Haberzettl, Helmut Plate, Christian Prüfer, Sonja Rossettini und Sylvia von Canstein, wird von den ehemaligen Oberbürgermeistern Wolfram Bremeier, Hans Eichel und Bertram Hilgen unterstützt. Wir haben stellvertretend den Sprecher der Initiative, Dr. Wendelin Göbel, zum Interview eingeladen.
Warum lehnen Sie die „Codes of Conduct“ ab?
Wir lehnen jede Art von Diskriminierung ab, sowohl auf Seiten der Ausstellung als auch auf Seiten ihrer Kritiker. Wenn Unbekannte den palästinensischen Ausstellungsraum beschädigen, ist das ein Akt von Diskriminierung. Wenn auf dem Fridericianum ein Aufruf zur Befreiung Palästinas angebracht wird, ist dies, aus meiner Sicht, eine propagandistische Überschreitung der documenta.
Die documenta soll resilienter werden, u. a. durch sogenannte „Codes of Conduct“. In der empfohlenen Form sind sie ein Zwitter. Zwar seien Codes of Conduct „kein justiziables Dokument“, doch soll die Künstlerische Leitung einer documenta-Ausstellung verpflichtet werden zu beschreiben, „wie gewährleistet wird, dass die Ausstellung die Menschenwürde nicht verletzt“; documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann lobt Codes of Conduct als ein „weiches, auf Dialogbereitschaft ausgerichtetes Instrument“ (HNA 25.01.24). Was nun? Gewährleistung oder Unverbindlichkeit? OB Sven Schoeller steht dazu: Eine Verhaltensregel habe immer einen „begrenzenden Effekt“ (Hessenschau 12.02.24). In dieser Sendung argumentiert Andreas Hoffmann, die gerichtliche Klärung dauere meist zu lang; ein Code of Conduct solle antisemitische Vorfälle verhindern. Falls trotz Code of Conduct ein Werk mit diskriminierendem Inhalt ausgestellt werde, solle es mit einem Schild versehen werden, auf dem sich die Leitung der Weltkunstschau von dem Werk distanziert. Demnach schützt ein Code of Conduct nicht vor diskriminierenden Inhalten. Distanzieren kann sich die Geschäftsleitung in solchen Fällen schon jetzt, noch vor einer Anklage. Schneller Eingriff von Seiten der documenta gGmbH anstelle der Rechtsprechung – das also verbirgt sich hinter einem Code of Conduct, der „ein Stück weit in den künstlerisch-kuratorischen Bereich hineinragen soll“.
Die Initiative #standwithdocumenta lehnt das ab. Kunstfreiheit und Diskriminierungsverbot sind zwei Seiten der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Das gewährleistet allein das Gesetz.
Sehen Sie die Kunstfreiheit wirklich bedroht?
Ja. Bedrohlich ist der Geist, der nach Einschränkung von Grundrechten ruft. Bedrohlich sind die davon ausgelösten Irritationen. Schon bei der Berufung der Findungskommission mahnten Catherine David, Roger M. Buergel, Carolyn Christov-Bakargiev und Adam Szymczyk, „dass die künstlerische Freiheit unbedingt geschützt werden muss und das Recht zur Kritik am Verhalten jedes Staates.“
Unsere Forderung „Rettet die Freiheit der Kunst“ wird gestützt von Claudia Roth. Sie sagt zum Gutachten des Staatsrechtlers Christoph Möllers: „Das Gutachten beschreibt klar und deutlich die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit und anderen Rechtsgütern.“ Ein wichtiger Punkt in diesem Gutachten sei, dass es grundrechtlich kategorisch ausgeschlossen sei, künstlerische Programme einer staatlichen Vorab-Kontrolle zu unterwerfen, so die Staatsministerin.
Diese Erkenntnisse müssen in Kassel, Wiesbaden und Berlin ernst genommen werden, anstatt Leitlinien anzustreben, die die Kunstfreiheit bedrohen.
Könnten die Governance-Empfehlungen von Metrum den Charakter der documenta beschädigen?
Die Governance-Empfehlungen haben den Charakter der documenta bereits beschädigt: Das zeigen u. a. die Videos auf #standwithdocumenta.com. Anderen kommen die Governance-Empfehlungen gelegen. Dieter Kühne (HNA-Leserzuschrift 08.02.24) schreibt: „Erstaunlich, dass einige Leserbriefschreiber sich eine d16 wünschen, bei der im Vorfeld schon die ‚Staatsräson῾ sichergestellt ist. Ist das noch moderne Kunst oder eine Mainstream-Veranstaltung mit zertifizierten Kuratoren?“
Im November 2023 trat die international besetzte Findungskommission für das Kuratorium der d16 zurück – ein bisher einmaliger Vorgang. Die vier zuletzt zurückgetretenen Mitglieder der Findungskommission meldeten Zweifel an, ob die Voraussetzungen für eine kommende Ausgabe der documenta in Deutschland derzeit gegeben seien. In ihrer Begründung für den Rücktritt gaben sie an, nicht zu glauben, dass es derzeit in Deutschland einen Raum für einen offenen Gedankenaustausch und die Entwicklung komplexer und differenzierter künstlerischer Ansätze gebe, wie sie documenta-Künstler*innen und Kurator*innen verdienen. Viele Menschen teilen diese Sorge. Sie auch?
Sorglos bleibt nach dieser Diagnose nur jemand, der die Außenwahrnehmung von Deutschland ausblendet. Sorge macht, dass im Zentrum der documenta über den Rücktritt hinweggesehen wird, als sei nichts geschehen. Was muss noch geschehen? Es genügt nicht, wenn OB Sven Schoeller Verständnis dafür äußert, „dass es aus der Perspektive von Künstlerinnen und Künstlern Kritik am Verhaltenskodex gibt“, aber unbeirrt Codes of Conduct angestrebt werden. Was ist, wenn die d16 langweilig wird oder gar keine neue Findungskommission, kein künstlerisches Kuratorium und keine spannenden Künstlerinnen und Künstler gewonnen werden? Dann ist die documenta tot. Niemand hat bisher Verantwortung für den Rücktritt der Findungskommission übernommen oder auch nur analysiert, wie gewährleistet werden kann, dass sich solch ein Verlust an Zeit und Goodwill nicht wiederholt. Timon Gremmels hat Bewegung in die Diskussion gebracht; es ist zu hoffen, dass Stadt, Land und Bund den gesetzlichen Raum für Kunstfreiheit und Diskriminierungsverbot erhalten: Nur dann bleibt die documenta eine Kunst-Ausstellung von Weltgeltung, nur dann zieht sie Hunderttausende nach Kassel.
Im Februar ist die Petition #standwithdocumenta gestartet und rund 3.000 Menschen haben sie bereits unterschrieben. Ein großer Zuspruch also?
Ja, ein großer Zuspruch, erst recht angesichts der begrenzten medialen Mittel der Initiative. Was wir uns wünschen: Noch viel mehr Menschen, die die documenta mit ihrer Unterschrift unter die Petition #standwithdocumenta unterstützen.
Der Aufruf richtet sich an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller (beide Bündnis 90/Die Grünen) sowie an den neuen hessischen Minister für Kunst, Timon Gremmels (SPD), bevor die Gremien der documenta über die Empfehlungen aus der Organisationsuntersuchung zu ihrer Entwicklung entscheiden. Hat sich von diesen drei Personen schon jemand mit Ihnen auseinandergesetzt und das Gespräch gesucht?
Keine der drei Personen hat das Gespräch mit der Initiative gesucht. Es wird sich zeigen, ob sie dialogbereit sind; oder ob man einfach „weiter so“ macht, egal, was führende Kunstschaffende davon halten, und egal, was für eine d16 dabei herauskommt.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Petition wächst täglich. Im April werden wir sie Claudia Roth, Timon Gremmels und Sven Schoeller übergeben. Wir sind nicht Entscheider, wir tragen zu Entscheidungen bei – mit Tausenden an Unterschriften für die Freiheit der Kunst.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit und wünschen eine schnelle und zukunftsweisende Reaktion der Politik und zahlreiche Unterzeichner*innen und Spender*innen.