© Katrin Ribbe
Patricia Nickel-Doenicke
Seit dem Jahr 2021 ist Patricia Nickel-Dönicke als Schauspieldirektorin und Chefdramaturgin die künstlerische Leiterin der Schauspielsparte am Staatstheater Kassel. Die gebürtige Potsdamerin war an den Theatern Osnabrück, Heidelberg und am Staatstheater Mainz tätig, bevor sie 2017 stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin am Theater Oberhausen wurde. Sie steht für ein starkes, innovatives und gut vernetztes Theater, das neben klassischen Stoffen auch zeitgenössische Themen mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen vereint. Dabei steht die intensive Auseinandersetzung mit der Stadt und der Region im Zentrum ihrer Arbeit. Wir haben sie zum Interview eingeladen, um mit ihr über die Öffnung zur Stadtgesellschaft, ihren Alltag und die erstmalig stattfindenden Thementage am Staatstheater Kassel zu sprechen.
„Mit Florian Lutz verbindet sie ein starkes Interesse an innovativen spartenübergreifenden Formaten und an der Öffnung des Stadttheaters hin zu einer diversen Stadtgesellschaft“ – hieß es bei Ihrem Antritt. Warum ist beides so wichtig und wie gelingt die Öffnung?
Die Öffnung in die Stadtgesellschaft war schon seit jeher ein großer Part meines künstlerischen Schaffens, denn für wen machen wir Theater, wenn nicht für die Menschen der Stadt, in der wir leben? Mit dem Festival „fast’n’d.ramadan“ haben wir explizit die unterschiedlichen religiösen Communities an einen Tisch geholt, haben zusammen gegessen, diskutiert und Theater gemacht. Wir haben einen Audiowalk durch die Aue zum Thema Wut veranstaltet, den Viktoriabunker mit einem Monolog aus der Ukraine bespielt sowie ein spartenübergreifendes Stück zwischen Schauspiel und Tanz im Studierendenhaus der Universität Kassel gemacht. Mit 18 Clubs in Kassel haben wir kooperiert, um dort das Schauspielensemble in einem Fortsetzungsroman zu präsentieren. Gemeinsam mit der Stadt Kassel haben wir so dem Clubsterben etwas entgegengesetzt – auch an diesem Thema werden wir in der Zukunft dranbleiben. Durch die Vielfalt der Spielorte und die damit einhergehenden unterschiedlichen Themen gelingt es uns so, ein sehr diverses Publikum auch an unterschiedlichen Orten zu erreichen.
Was sind Ihre Aufgaben als Schauspieldirektorin und Chefdramaturgin des Schauspiels?
Ich gestalte künstlerisch den Spielplan und verantworte diesen. Neben der inhaltlichen Ausrichtung der zehn bis 15 Produktionen pro Saison bin ich auch für das Engagement aller Künstler*innen auf und hinter der Bühne des Schauspiels zuständig. Dann überlege ich mir zusammen mit meinem Team, wo man spielt, und das wiederum bedeutet auch eine intensive Netzwerkpflege. Genauso wie die Entwicklung von Audience-Development-Formaten, der Aufbau von internationalen Kooperationen und Festivals oder komplexen Thementagen. Last but not least bin ich auch ziemlich viel unterwegs, um neue Künstler*innen aus den Bereichen Regie, Schauspiel, Performance und Dramatik zu scouten, und dann komme ich auch meistens dazu, Stücke zu lesen und zu lektorieren, was mir besonders viel Freude macht.
Sehr komplex. Wie dürfen wie uns Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
Dass es eben keinen Alltag gibt! Das macht die Organisation des Familienlebens zwar oft schwierig, aber ich liebe meine Arbeit, denn sie ist abwechslungsreich, komplex und voller Überraschungen. Außerdem habe ich ein verlässliches Team im Schauspiel und ein sehr eigenständiges Ensemble, das in Krankheitsfällen sehr kollegial und professionell agiert, was mir die Arbeit enorm erleichtert, denn eins ist das Wichtigste im Theater: Hauptsache, der Lappen geht hoch.
Im Oktober 2023 waren Sie mit der „Friedensstifterin“ zu Gast beim Projekt „Reclaim Kunstfreiheit. Antisemitismuskritik, Kunst & Kultur“ im PODEWIL Berlin und haben für große Furore gesorgt. Das Echo der Medien war enorm. Wie erklären Sie sich das?
Die Dramatik Israels ist schon lange einer meiner Schwerpunkte, und mit dem Stück hatten wir ja bereits ein halbes Jahr vorher im TIF Premiere. Wir haben die Premiere schon damals mit einem großen Rahmenprogramm flankiert, da es den Kontext der politischen Situation in Gaza und Israel thematisiert, was auch damals schon heikel war. Die Jüdische Gemeinde, das Sara Nussbaum Zentrum Kassel und das Institut für soziale Plastik aus Berlin waren von der humorvollen, anrührenden und gleichzeitig kritischen Darstellung einer deutschen Musikerin, die glaubt, mit ihrer Musik den Frieden in den Nahen Osten bringen zu können, sehr begeistert.
Die Gastspieleinladung nach Berlin fand sehr kurz nach dem Massaker der Hamas in Israel statt, und wir waren dementsprechend nervös, da wir auf keinen Fall mit unserer Kunst pietätlos erscheinen wollten – zumal wir als einziges Theater mit einem Stück eingeladen waren, das so konkret inhaltlich zur politischen Situation passte. Doch trotz vieler Tränen, die flossen, wurde „Die Friedensstifterin“ eben auch mit einer guten Portion Humor sowohl von den Zuschauenden als auch der überregionalen Presse entsprechend richtig verstanden. Und das war und ist auch nach wie vor das Geheimnis des Stücks, das weiterhin im TIF zu sehen ist.
Am 3. Februar feiert die Produktion „Zonenrandgebiet“ Premiere – Sie sind die verantwortliche Dramaturgin. Was ist bei diesem Stück die größte Herausforderung?
Vielleicht die Stimmung des nach 30 Jahren immer noch nicht zusammengewachsenen deutschen Volkes einzufangen. Uns interessiert, wieviel Geschichte nach wie vor mit allen Vorurteilen, Kränkungen und verschiedenen Weltbildern in uns steckt, was das mit unserem Demokratieverständnis macht und was da eigentlich Unheimliches zwischen uns steckt: in diesem Riss, der 40 Jahre lang ein Volk geteilt hat. Nach dem, was gerade über das Geheimtreffen in Potsdam aufgedeckt wurde, wird es bei uns auf der Bühne auf jeden Fall auch ziemlich gruselig werden, Zombies nicht ausgeschlossen.
Als ich 2020 nach Kassel zog, war es mir wichtig, endlich auch einmal das Thema Ost/West bewusst aus der Westperspektive des sogenannten „Zonenrandgebietes“ zu untersuchen. Dabei habe ich mich zusammen mit dem Regisseur Alexander Eisenach gefragt, was die politische Situation und ihre geopolitische Lage mit den Menschen damals gemacht hat und wie dies bis heute nachwirkt. Es ist ein Thema, das so noch nicht auf einer deutschen Bühne behandelt wurde; wenn, dann bisher eher in Form der ostalgischen Oststücke im Osten. Wir brauchen dringend eine Perspektiverweiterung, um wieder mehr gemeinsam lachen zu können und die wirklichen Probleme wie eben den Rechtsruck in der Gesellschaft anzugehen.
Am 24. Februar vor zwei Jahren begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Anlässlich dieses Jahrestags und vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Lage lädt das Schauspiel des Staatstheaters Kassel von Donnerstag, 22. Februar, bis Sonntag, 25. Februar zu den Thementagen MAKE ART? NOT WAR! ein und macht seine Spielstätten zum Begegnungs- und Verhandlungsort. Sie sind die Ideengeberin der Thementage und stehen federführend für die Organisation. Geben Sie uns bitte einen Einblick, was uns erwartet.
In den ersten beiden Spielzeiten haben wir uns immer wieder mit der politischen Weltlage mit künstlerischen Stücken, Stoffen und Formaten befasst. Mit den Thementagen MAKE ART? NOT WAR! möchten wir anlässlich des zweiten Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine all unsere Stücke in den Fokus stellen, die sich mit Kriegen, Kämpfen und Revolutionen befassen. Wir öffnen das Schauspiel Kassel mit einem Rahmenprogramm aus Ausstellungen, einer Filmvorführung in Kooperation mit dem Filmladen, Podiumsdiskussionen und gemeinsamen Essen, machen es zum Begegnungs- und Verhandlungsort und laden uns dazu besondere Gäste und die verschiedensten Communities der Stadtgesellschaft ein. Inhaltlich schlagen wir dabei den Bogen von der Situation im Iran über Deutschland mit seinen verdrängten Kontinuitäten innerhalb der deutschen Gewaltgeschichte bis zur Ukraine und zum Nahostkonflikt. Wir laden das schlesische Theater Katowice aus Polen ein, das mit dem Gastspiel „5:00 UK“ ukrainische Frauen zeigt, die ihre Fluchtgeschichte erzählen. Am 24. Februar liegt dann weiter der Fokus auf der Ukraine mit der Produktion „Nordlicht“, dem Open House für die ukrainische Community und einem Vortrag des Pazifisten Olaf Müller in Kooperation mit der Universität Kassel. Abschließend widmen wir uns dem Nahostkonflikt, wobei zur Vorstellung von „Die Friedensstifterin“ der Autor Avishai Milstein aus Israel anreisen wird, um auch über die Situation vor Ort zu berichten.
Gestatten Sie uns noch ein paar persönliche Fragen. Eine Zeitkapsel beamt Sie in jede beliebige Zeitepoche. Für welche Inszenierung hätten Sie gern die Dramaturgie übernommen?
Ganz klar, Ende der 90er in Berlin bei Frank Castorf für „Die schmutzigen Hände“ von Sartre. Das Stück habe ich tatsächlich später auch selbst betreut, aber diese Inszenierung war mit ihrer absolut brisanten Setzung zum damaligen Jugoslawienkrieg eine totale Initialzündung für mich. Ich hatte gerade Abi in der Schwalm gemacht und an der Volksbühne Berlin gab es Theater mit einem klaren, politischen Anliegen, das auch noch unterhaltend war.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am besten?
Der Irrsinn, alle sechs bis acht Wochen sich mit einem komplett neuen Thema philosophisch, sprachlich, politisch auseinanderzusetzen und mit einem Team eng daran zu arbeiten, dass am Ende ein Stück Kunst herauskommt, mit dem das Publikum etwas anfangen kann, das berührt, zum Lachen und Nachdenken bewegt – und wie man am Ende die Welt ein bisschen bunter sehen kann.
Was bedeutet Glück für Sie?
Tatsächlich Gesundheit, Yoga, die Welt entdecken und jede freie Minute, die ich mit meiner Familie verbringen kann.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit und freuen uns auf ein Wiedersehen bei den Thementagen ab dem 22. Februar 2024.