
Am 21. Juli 2023 wurde Dr. Sven Schoeller als neuer Kasseler Oberbürgermeister vereidigt und ist somit fast ein Jahr im Amt. Grund genug, ihn zum Interview einzuladen und mit ihm über die ersten zwölf Monate ein Resümee zu ziehen. Unsere Themen waren vielfältig: von der Übernahme des Kulturdezernats über die documenta 16 im Jahr 2027 bis hin zum SKL-Glücksatlas 2024.
In Ihrer Rede zur Amtseinführung sagten Sie: Kassel ist eine Stadt der Vielfalt. Mit einer starken Stadtgesellschaft, die sich ihrer Vielfalt bewusst ist und die eine gemeinsame Identifikation in dem Zusammenleben in unserer Stadt findet, wollen Sie dieses Lebensgefühl fördern.
Genau, unsere Stadtgesellschaft besteht heute aus Menschen ganz unterschiedlicher Interessen und Herkünfte. Das gilt es anzuerkennen und wertzuschätzen. Ich setze mich dafür ein, dass wir den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft stärken. Dazu tragen der Sport, die Kultur, aber auch eine lebendige Innenstadt sowie Stadt(teil)feste erheblich bei. Vieles, was hier geschieht, wird von Vereinen und Ehrenamtlichen getragen. Dieses bürgerschaftliche Engagement erlebe ich in Kassel als außergewöhnlich hoch – und wir als Stadt unterstützen zahlreiche Initiativen, wo notwendig. Aber auch strukturell sind wir dabei, Hürden abzubauen: Wir investieren in unsere Schulen und Kitas wie seit den 1970er Jahren nicht mehr. Das ist wichtig, um die Chancengleichheit in unserer Stadt zu verbessern. Darüber hinaus wollen wir die Lebensqualität in bisher benachteiligten Quartieren verbessern. Überdimensionierte Straßenschneisen sollen ihre trennende Wirkung verlieren, mehr Grün, weniger Verkehrslärm, eine gute Nahversorgung und mehr Aufenthaltsflächen fördern die Begegnung im Stadtteil.
Sie haben im letzten Jahr auch das Kulturdezernat übernommen. Wie ist der Stand der Entwicklung und Umsetzung der Kulturkonzeption Kassel 2030?
Die „Kulturkonzeption Kassel 2030“ ist leitendes Element unserer kulturpolitischen Arbeit. Wir machen bei der Umsetzung gute Fortschritte. Aktuell beschäftigt uns unter anderem die Einrichtung eines Prototyps des neu zu schaffenden „Zentrums für Kreativwirtschaft“, dessen Realisierung zwischenzeitlich in greifbare Nähe gerückt ist. Zudem haben wir eine Potenzialanalyse für das ruru-Haus erstellt, die aufzeigt, dass hier verschiedene kulturelle Nutzungen vereint werden können mit dem Kernelement der Stadtbibliothek als „Drittem Ort“. Für mich ist ein zentraler Punkt, dass sich das ruru-Haus in die Innenstadt öffnet. Das Haus soll ein echter Anziehungsfaktor werden – für Einheimische wie für Besucher unserer Stadt – und mit attraktiven Veranstaltungen und Angeboten auch in die Fußgängerzone hineinwirken.
Darüber hinaus konnte mit der Schaffung eines neuen Förderinstrumentes im Mai 2024 ein weiterer bedeutender Meilenstein erreicht werden. Fünf spartenoffene Arbeitsstipendien für Nachwuchskünstlerinnen und -künstler aus Kassel werden von nun an jährlich ausgeschrieben. Sie sollen die künstlerische Entwicklung Kulturschaffender fördern und den Übergang in das Berufsleben erleichtern. Mit beiden Umsetzungsmaßnahmen wollen wir unseren künstlerischen Nachwuchs nachhaltig und langfristig in Kassel halten. Das ist wichtig für die Qualität, Vielfalt und Dichte der kulturellen Szenen unserer Stadt auch in der Zukunft. Mit dem „Kulturbeirat der Stadt Kassel“ haben wir ein weiteres bedeutendes Ergebnis der Kulturkonzeption erzielt. Er steht für eine bessere Vernetzung zwischen Kulturinstitutionen, Kulturschaffenden, Politik und Stadtverwaltung und ist Plattform für einen Austausch auf Augenhöhe.
Der Aufsichtsrat der documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat Anfang Mai die zentralen Empfehlungen der Organisationsentwicklung beschlossen. Die erste Maßnahme ist nun, jetzt sehr schnell die internationale Findungskommission aufzustellen. Wird die documenta wie geplant 2027 stattfinden?
Mit den Beschlüssen zur Umsetzung der Erkenntnisse aus der Organisationsuntersuchung und der folgenden Aufstellung der Findungskommission haben wir die Grundlage dafür geschaffen, dass eine documenta-Ausstellung 2027 möglich bleibt. Das realistische Ziel ist, am Ende dieses Jahres eine künstlerische Leitung benannt zu haben. Die finale Abstimmung zum Zeitplan für die kommende Ausstellung wird dann mit dieser neuen Leitung erfolgen. Ich bin zuversichtlich, dass sich diese künstlerische Leitung auch in einem dann um ein Jahr verkürzten Vorbereitungszeitraum in der Lage sehen wird, eine documenta-Ausstellung auf die Beine zu stellen.
Eine weitere Baustelle ist die Ersatzspielstätte für das sanierungsbedürftige Große Haus des Kasseler Staatstheaters. Der Standort ist gefunden und der Baubeginn der Ersatzspielstätte ist für den Herbst 2024 anvisiert. Planungsstand heute?
Kurz gesagt: Wir liegen im Zeitplan. Ein Generalübernehmer wurde über ein Vergabeverfahren bereits mit dem Bau der Ersatzspielstätte beauftragt. Die vorbereitenden Erschließungsarbeiten in der Jägerkaserne haben begonnen. Dass sich die Jägerkaserne eignet, ist ein Glücksfall: Sie ist gut angebunden und wir können so eine technische Neuerschließung des Areals vorziehen. Parallel können wir auf diese Weise den Bau von Sozialwohnungen vorantreiben, während andere große Wohnbauprojekte durch die Zins- und Baupreisentwicklung gestoppt sind bzw. sich erheblich verzögern.
Insgesamt muss man sagen, dass wir als Stadt hier im vergangenen Jahr die Initiative übernommen haben, weil höchste Dringlichkeit bestanden hat, um einen Interimspielort in dem gegebenen Zeitfenster noch umsetzen zu können. Wir verwenden darauf seither nicht unerhebliche personelle und zeitliche Ressourcen. Und ich bin sehr dankbar für eine an diesem Projekt hochengagiert arbeitende Verwaltung und die Mitarbeitenden städtischer Planungs- und Baugesellschaften. Das ist eine Riesenleistung, auf die wir alle stolz sein können.
Wenn, s ums Glück geht, liegt Kassel unter den 40 größten Städten der Bundesrepublik ganz vorn. Das zeigt der SKL-Glücksatlas 2024, der in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg erstellt und kürzlich veröffentlicht wurde. Ein weiterer Ansporn?
Natürlich. In Kassel lebt es sich glücklicher als woanders in Deutschland – wir wissen das schon seit Längerem. Bereits das nordhessische Urvolk der Chatten nahm bekanntlich nicht an der Völkerwanderung teil … Das hatte bereits damals seinen Grund vermutlich in der Attraktivität des Standorts. Da wir Nordhessen eine sehr anständige Bescheidenheit pflegen und uns Prahlerei fern liegt, wurde dieses Ergebnis gerade außerhalb Kassels mit Überraschung zur Kenntnis genommen. Wir sollten das zum Anlass nehmen, zukünftig – ganz ohne Angeberei, aber durchaus selbstbewusst – verstärkt auf die Vorzüge unserer Stadt hinzuweisen.
Wir können bei den objektiven Faktoren wie Infrastruktur, Gesundheit, Kultur und Freizeit punkten. Mit einer guten Familien- und Bildungspolitik und klaren Konturierung als Standort für erneuerbare Energien und umweltfreundlicher Mobilität wollen wir künftig die starken Effekte für das Wohlbefinden der Menschen noch weiter steigern.
Zum Todestag von Walter Lübcke mahnten Sie zu mehr Wachsamkeit. Die Zahl der rechtsextremen und weiteren politisch motivierten Straftaten in Deutschland hat wieder zugenommen. Besorgt Sie das?
Ja sehr, und das muss uns allen große Sorgen bereiten. Die jüngsten Gewaltübergriffe auf Politikerinnen und Politiker, Amtsträger und ehrenamtliche Wahlhelfende sind eine große Gefahr für unsere Demokratie, unsere freiheitliche Gesellschaft und die Rechtsstaatlichkeit. Zudem kann jeder Angriff auf einen politischen Akteur – ob verbal, digital im Internet oder körperlich – Menschen davon abhalten, sich für die Gesellschaft zu engagieren oder sich an demokratischen Diskursen zu beteiligen. Deshalb müssen wir so wachsam sein und uns jedem Versuch, unsere Gesellschaft durch Hass, Hetze, Gewalt und Extremismus zu spalten, entschieden und mutig entgegenstellen.
Gestatten Sie uns noch ein paar persönliche Fragen. Eine Zeitkapsel beamt Sie in jede beliebige Zeitepoche. Mit welcher Persönlichkeit aus der Vergangenheit würden Sie gern eine politische Debatte führen?
Karl der Große.
Jeden Tag einen übervollen Terminkalender. Wie schaffen Sie einen Ausgleich in Ihrer privaten Zeit?
Ich versuche, einmal die Woche Tennis zu spielen, ab und zu mit meiner Frau und – wenn sie wollen – den Kindern Essen zu gehen; außerdem mache ich auch mal Urlaub.
Was bedeutet Glück für Sie?
Mit meinem Rennrad einen Tour de France-Berg zu fahren und oben anzukommen, bei Sonnenaufgang unterhalb des Merkurtempels im Bergpark zu joggen, eine herzerweichende Opernarie zu hören, ein aufgeräumter Schreibtisch vor dem Urlaub und ein Abendessen mit meiner Familie.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit, sind gespannt, wie es mit der Interimsspielstätte des Staatstheaters weitergeht, und freuen uns auf ein Wiedersehen bei einer der zahlreichen kulturellen Veranstaltungen in diesem Sommer.