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DER VERMESSENE MENSCH
Eine Gruppe Ovaherero-Frauen wird in Lars Kraumes Film „Der Vermessene Mensch“ von der ‚Deutschen Schutztruppe‘ in die Wüste getrieben
Im letzten Jahrtausend bekam ich zu Weihnachten das Verve Jazz Book geschenkt; zehn Schallplatten mit zwanzig Künstler:innen, wie man heute sagt. Den Auftakt macht Ella Fitzgerald. Wie oft habe ich „April in Paris“ mit dem Count Basie Orchestra gehört, natürlich immer die gleiche Aufnahme. Bei Apple Music bekomme ich den Song in 87 Versionen. Nichts gegen die smarte, digitale Welt. Ich habe mir in diesem Tool ein eigenes ‚Radio‘ eingerichtet – und entdecke immer wieder tolle Musiker:innen, von denen ich noch niemals gehört habe. Als Einstimmung auf unsere Reise wollte ich nur „April in Paris“ hören, aber 87 Interpretationen waren natürlich im Home Office nicht zu schaffen. Nun sitzen wir in der Maschine nach Orly, und ich schreibe meinen Blog, den ich vor bald fünf Jahren täglich auf unserer „American Journey“ begonnen habe.
Der Blog ist für mich immer auch ein Moment des Innehaltens. Was habe ich in der letzten Woche gemacht, was erlebt, wo bin ich gewesen? Nicht vergessen werde ich den Film „Der Vermessene Mensch“ von Lars Kraume, sicher dagegen den großen Oscar-Gewinner 2023 „Everything Everywhere All at Once“, den es schon bei Amazon Prime für ein paar Euro gibt. Grandios gemacht & gefilmt die Reisen durch Multiversen, aber nicht mein Ding. Kraume hingegen beschäftigt sich mit dem deutschen Kolonialismus, mit den Verbrechen an den Herero im südlichen Afrika. Die „wissenschaftliche“ Legitimation sollten Anthropologen und Ethnologen schaffen und mit Darwin als Kronzeugen die Überlegenheit der weißen Rasse „beweisen“. Der Regisseur erzählt schlüssig und spannend von diesem beschämenden Kapitel der deutschen Geschichte, von der noch immer viele erbeutete Schädel in deutschen Museen künden. Eine Entschädigung haben die verbliebenen Herero von der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht erhalten. Eine Schande!
Wir befinden uns schon im Anflug auf Paris, wo wir mit ziemlich besten Freunden über Ostern wieder ein paar Tage verbringen, wie im Herbst 2018. Die Maschine ist gut gefüllt, niemand trägt eine Maske, der Krieg in der Ukraine ist noch weiter weg als in Berlin. Jede:r wird mit diesem Flug 548 kg CO₂ verbraucht haben, jede:r könnte wissen, dass ein Äthiopier pro Jahr nur 560 kg CO₂ emittiert und somit deutlich unter dem Wert der Klimaneutralität liegt. Wir alle wissen, was zu tun ist – hier und jetzt. Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend sind inzwischen 44% der Deutschen mit der Klimapolitik der Bundesregierung unzufrieden. Das sollte besonders den Grünen zu denken geben. Die Zeit der schlechten Kompromisse in der sog. Zukunftskoalition muss ein Ende haben. In unserem Hotel, einer Oase nahe dem Quartier Latin, hören wir natürlich „April in Paris“. Wir freuen uns auf den Frühling an der Seine. Ein Leben ohne Widersprüche ist nicht zu haben.
Erk Walter
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