© Karl Grünkopf
Venedig. Stadt der Vergangenheit mit Zukunft.
Um ihn soll es nicht gehen: Bond. James Bond. Nachdem ich das Buch "Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters" von Marco d'Eramo gelesen hatte, wollte ich erst recht nicht nach Venedig fahren, einer von über 30 Millionen Touristen sein, die jährlich die Lagunenstadt heimsuchen. Plötzlich ploppte ein Angebot per Mail auf, wir buchten spontan und wider bessere Absicht. Zur Einstimmung auf die Reise schauen wir "Tod in Venedig" (1971) von Luchino Visconti. Würde heute ein Film dermaßen langsam erzählen und die Päderastie ungebrochen ausstellen? Jedenfalls geht mir am Tag der Reise unablässig die Musik von Gustav Mahler durch den Kopf - ein sinnfälliger Kontrast zum Massentransport unseres Billigfliegers. Kaum sitzen wir im Vaporetto ist die Demütigung vergessen. Die Schönheit, der Zauber Venedigs umfängt uns.
Wir wohnen auf Giudecca und haben einen herrlichen Blick auf die Stadt, die im November zum Glück weniger Besucher verzeichnet als im Frühling oder Sommer. Gleichwohl lässt sich nachvollziehen, was Overtourism bedeutet: die Zurichtung einer Stadt für den Tourismus; sollen die Bewohner:innen doch sehen, wie sie mit ihren 'normalen' Bedürfnissen durchkommen. Wir haben uns kein Must-See-Programm gemacht und streifen durch die Gassen, immer wieder überrascht, wie schnell wir aus dem Verkaufstrubel an stillen Orten landen, an denen die Zeit still zu stehen scheint. Doch der Schein trügt. Häuser, die nur zum Teil oder gar nicht bewohnt sind, beherbergen nur gerade keine Gäste. Airbnb heißt der Fluch unserer Zeit. "Heute gibt es in Venedig mehr Touristenbetten als Einwohner", schreibt Petra Reski in ihrem aktuellen und sehr lesenswerten Buch "Als ich einmal in den Canal Grande fiel. Vom Leben in Venedig". Sie ist eine von fünfzigtausend Menschen, die noch in der Lagunenstadt (über)leben; jedes Jahr werden es tausend weniger.
Wir treffen die Autorin kurz auf einen Prosecco und sind beeindruckt von ihren deutlichen Worten und ihrem unerschütterlichen Optimismus. Sie ist mit einem Venezianer verheiratet, lebt seit dreißig Jahren in der Stadt, erlebt deren Zerstörung hautnah - und wird trotzdem nicht aufgeben und weiterkämpfen. Einmal zitiert sie die amerikanische Architektin Paola Somma - Venedig habe sich in eine "Hedge-City" verwandelt. "Keine Stadt mehr, sondern ein Investitionsfonds. Wer Geld hat, kauft sich ein Stück Venedig." Harte, wahre Worte. Dabei ist das Konzept dieses Ortes aktueller denn je. "Venedig ist eine Stadt des menschlichen Maßes, was die Entfernungen betrifft und die menschlichen Beziehungen auch." Die Zukunft der Vergangenheit, zurück zu kleinen überschaubaren Einheiten für Menschen, nicht für Investoren. Paris etwa möchte eine "Stadt der 15 Minuten" werden, in der man innerhalb dieser Zeit alles erreichen kann. Auf der Hinreise mussten wir übrigens weder unser Impfzertifikat noch das mühsam ausgefüllte Einreiseformular vorweisen. Wir kommen natürlich trotz allem wieder.
Erk Walter
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