© Karl Grünkopf
Das Autokino in Zempow war das einzige in DDR. Inzwischen wird es von einem Verein weiter betrieben.
Zu den deutschen Fußballmythen zählt die legendäre Wasserschlacht am 3. Juli 1974 im Frankfurter Waldstadion, die ich miterlebt habe. Der Bruder hatte ein Ticket gewonnen und es an mich abgetreten, weil er mit den Eltern nach Dänemark fuhr. Ich war dabei, doch die Erinnerungen sind verwaschen. Habe ich das einzige Tor des Matches von Gerd Müller wirklich im Stadion gesehen? Wo habe ich geparkt? Wie bin ich vollkommen durchnässt nach Hause gekommen? Die Begeisterung nach dem deutschen WM-Titel dann war unbeschreiblich. Daran fühlte ich mich erinnert bei dem Spiel Deutschland – Dänemark bei der EURO 2024 – lange nicht mehr so gebrüllt bei einem Match. Was Wunder, denn ich gucke schon lange nicht mehr das Millionenspiel Fußball. Derzeitiger Spitzenreiter im Big Business ist der Portugiese Cristiano Ronaldo, der in der Hofnarrenliga der Saudis kickt und alles in allem 247 Millionen Euro (Forbes) pro Jahr kassiert, also schlappe 676.712,33 Euro pro Tag!!!
Mit einem Wochensalär könnte der Kicker wahrscheinlich locker den gesamten Kulturetat der Stadt Wittstock Dosse tragen. Zu dieser Kleinstadt im Nordwesten von Brandenburg zählt der Ortsteil Zempow mit 116 Einwohnern (31.12.2023). Dort gab es das einzige Autokino der DDR, das immer noch existiert und inzwischen von einem Verein getragen wird. Das Kino liegt am Ende der Welt und beeindruckt mit einem spannenden, ungewöhnlichen Programm mit interessanten Filmgesprächen. Ein Besuch dieser Legende steht schon lange auf meiner Bucket-List, aber heuer wollte es sich wieder nicht fügen. Es ist in Zeiten wie diesen wichtig, dass eine Institution wie das Autokino Zempow weiter bestehen kann, nicht aus Sentimentalität, sondern um ein Stück authentischer DDR-Kultur in dieser dünn besiedelten, entlegenen Gegend zu erhalten.
Wie wichtig es ist, eine eigene Identität zu behaupten, kann man in dem aufschlussreichen Band “Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt” (edition suhrkamp) des Soziologen Steffen Mau erfahren. Dass sich eine Wiedervereinigung nicht planen oder steuern lässt, steht außer Frage. Nach über dreißig Jahren muss die ”Eule der Minerva” ihren Flug beginnen. Und keiner bringt das besser auf den Begriff als Mau, der übrigens in Rostock geboren wurde. Er analysiert messerscharf den von der Bundesrepublik dominierten Prozess der deutschen Einheit – die Folgen dieser ”Kolonialisierung”, wie es manche nennen, sind bis heute spürbar und werden von rechten und linken Populisten raffiniert instrumentalisiert. “Obwohl es den meisten Ostdeutschen heute deutlich besser geht als vor der Einheit (…), gibt es doch in nennenswerten Bevölkerungsgruppen eine unterschwellige Verletzung, einen Eindruck des Zu-kurz-Kommens, der nicht selten in Ressentiment und eine skeptische Haltung gegenüber staatlichen Institutionen, Politik und Medien umschlägt.“ Mau entlarvt die deutsche Einheitserfolgsgeschichte als gefährliche Illusion. Mythen können sehr lange Beine haben.
Erk Walter
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