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Venedig ohne Touristen in dem Film-Essay „Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre.
Ausverkauft! Bei windigem Regenwetter steht die Generation 60plus geduldig vor einem Kiez-Kino umme Ecke. Sie alle wollen „Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre sehen, einen Film-Essay, der sich viel, allzu viel vornimmt. Es gilt 2G mit Abstand im Kino und permanente Maskenpflicht. Eigentlich wollte sich der Regisseur auf Spurensuche nach seinem Vater begeben, der in Venedig geboren wurde, dann aber die Lagunenstadt verließ. Ein Schweiger mit angeborenem Herzfehler, zu dem der Sohn nie ein Verhältnis entwickeln konnte, auch nicht posthum in diesem Film mit den schönen Worten und Bildern. Während der Dreharbeiten kam dann Corona dazwischen, und das Leben in Venedig fast zum Erliegen. Segre macht auch das zum Thema, und die Jahrhundertflut 2019 und verschneidet alles mit privaten und beliebigen Sequenzen - in einem Wort: 68 Minuten können sehr lang werden.
Corona ist eben allgegenwärtig, doch der normale Betrieb muss weiterlaufen, auch in einem Krankenhaus. In einer Klinik habe ich einen geplanten Termin. Dass ich fast den halben Tag draußen vor der Station auf mein Bett warten muss, längst vergessen. Immer wieder höre ich die gleichen Fragen, etwa nach Voruntersuchungen, die doch im gleichen Haus gemacht wurden. Am häufigsten werde ich gefragt, ob ich bewegliche Zahnprothesen habe. Auf meinen vorsichtigen Hinweis, das sei doch längst bekannt, gibt die brave Schwester unumwunden zu: „Wir sind mit der Digitalisierung noch nicht so weit“. Es gibt die guten, alten, deutschen Akten wie eh und je, die ich als Bote in eigener Sache schon einmal unter den Arm nehmen darf. Eine Momentaufnahme des digitalen Rückstands im deutschen Gesundheitssystem.
Per Zufall stoße ich in 3sat auf einen Film, der zur Situation passt. Die Protagonistin wird auch mit einem Bett durch ein Krankenhaus geschoben und schaut auf Neonlampen über ihr an der Decke. Niemals hätte ich diesen Skandalroman gelesen, weil ich neue Skandalromane hasse. „Feuchtgebiete“ (2008) von Charlotte Roche war ein Skandälchen, weil Helen (Carla Juri) ihre Sexualpraktiken & Regressionen offen und manchmal recht unappetitlich auslebt. Der Film (u.a. mit Meret Becker und Edgar Selge) zieht sich, soll aber nicht so plakativ wie der Bestseller auf Schock-Szenen setzen. Man könnte dass Verhalten von Helen als regressiven Schrei nach Liebe deuten, die sie als Kind von ihren ambivalenten Eltern (Trennung, Versöhnung, Trennung … ) nie erfahren hat. Marcel Reich-Ranicki fand den Roman „sehr eklig“ und „literarisch wertlos“. Wer mag dem letzten Großkritiker seiner Zunft da widersprechen.
Erk Walter
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