© Studiocanal GmbH / Emmanuelle Jacobson-Roques
DAS LEBEN EIN TANZ
Élise (Marion Barbeau) in dem so schönen wie wahren Film „Das Leben ein Tanz“ von Cédric Klapisch.
Es ist wie immer bei einer Premiere der Komischen Oper Berlin, und doch ist dieses Mal alles ganz anders. Das Publikum strömt ins Haus, schnappt sich eine aufwändig gestaltete Saisonbroschüre und sucht seine Plätze. Die neue Doppelintendanz Susanne Moser und Philip Bröking - beide schon lange am Haus - eröffnen ihre erste Spielzeit mit einem Paukenschlag: „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono. Das ganze Haus wurde für die sechs Aufführungen umgebaut. Wo sonst die Zuschauer:innen sitzen, ist jetzt eine weiße Landschaft, in die wir uns mit weißen Umhängen wie beim Barbier einfügen (Regie: Marco Stormann). Das Orchester sitzt oben im Rang, der phantastische Chor ist mitten im Geschehen. „Nono nimmt in Intolleranza 1960 Bezug auf gesellschafts- und ökopolitische Katastrophen seiner Zeit“, lesen wir im informativen Programmheft und werden doch nur von der Zwölfton-Musik mit ganz viel Schlagzeug und vor allem von Sean Panikkar (ein Flüchtling) und Gloria Rehm (seine Gefährtin) gebannt.
Die Inszenierung verliert sich im weißen Raum, findet für die Textvorlagen keine starken Bilder; zudem wird „Intolleranza 1960“ mittendrin angehalten - Ilse Ritter trägt einen politisch korrekten Text von Carolin Emcke vor. „Das ist ja wie bei der documenta“, zischelt es treffend. Das sollte sich mal jemand bei einer Wagner-Oper trauen! Dennoch Standing Ovations für einen mutigen Auftakt in der Komischen Oper. Die hätte auch der grandiose Film „Das Leben ein Tanz“ verdient. Cédric Klapisch erzählt die Geschichte einer klassischen Balletttänzerin, die sich nach einem Sturz in ein neues Leben kämpft. Marion Barbeau, eine professionelle Tänzerin, spielt Élise so authentisch, als würde sie wie alle anderen gar nicht spielen, sondern leben. En passant wird der Unterschied zwischen dem klassischen Ballett, das schwerelos zum Himmel strebt, und dem Modern Dance deutlich, dessen Bodenhaftung den Menschen nimmt, wie er ist. Geleitet wird die Kompanie im Film vom israelischen Choreographen Hofesh Shechter. Er macht Élise Mut. Durch ihn, eine neue Liebe und eine weise Ratgeberin findet sie zurück: in ihr Leben als Tänzerin.
Ganz beseelt verlassen wir das Kiez-Kino, das noch nummerierte Eintrittskarten von der Rolle verkauft und unseren Besuch mit 2 Stempeln auf einer Bonuskarte belohnt. Diese kleinen Häuser mit langer Tradition und dem Charme einer besseren Zeit stemmen sich gegen den Trend. „2021 generierten in Deutschland zehn Titel 56 Prozent aller Kinoeinnahmen.“ (Tagesspiegel, 24.09.22). Der Strukturwandel und die drastischen Umsatzrückgänge infolge der Pandemie treffen die kleinen Häuser besonders hart. Sie haben keine Rücklagen, um höhere Energiekosten und eine Rezession zu überstehen. Hier steht nicht bloß ein Geschäftsmodell zur Disposition, hier droht eine ganze Kultur unterzugehen. Was das bedeutet, haben wir bei unserem Besuch in Los Angeles vor vier Jahren erlebt. „Lebendig ist, wer wach bleibt“, schrieb der Dichter Angelo Maria Ripellino und inspirierte Luigi Nono zu seinem ersten Musiktheaterwerk. Lebendig bleibt, wer ins Kino geht.
Erk Walter
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