© Rolf Hiller
Von Berliner Fernsehturm nach Madrid ist es 1.000 km weiter als nach Kiew.
Nachrichten im Fernsehen sehe ich fast nie. Während der EURO 2024, die ich sehr sporadisch live verfolge, kam im ZDF heute journal ein Bericht, wie sich die Menschen in der Ukraine auf die permanente Kontingentierung des Stroms einstellen. Eine Mutter berichtet, dass sie ihr kleines Kind in den 22. Stock tragen müsse, und natürlich die Lebensmittel. Eine andere Frau steht nachts auf, kocht dann und macht ihren Job im Home Office. Sie klagen nicht an, sie geben nüchtern zu Protokoll und beeindrucken um so mehr. Wenn bei uns mal das Internet für ein paar Momente ausfällt, fangen schon alle an zu hyperventilieren. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert jetzt schon zweieinhalb Jahre und regt niemanden mehr auf, es sei denn Putins willige Armee bombardiert ein Kinderheim.
Wie lange kann die Ukraine noch durchhalten, wo nehmen die Menschen dort ihre Kraft und ihre scheinbare Gelassenheit her? Die Zeit scheint gegen sie zu laufen. In Europa haben die Rechtspopulisten & Putin-Adepten immer mehr Zulauf, und in Amerika spielt die Zeit dem Kriegsverbrecher in die Hände. Die Chancen für Joe Biden, erneut gegen Donald Trump zu gewinnen, stehen schlecht; den Demokraten läuft die Zeit davon. Es dürfte ihnen kaum mehr gelingen, eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufzubauen, der eine Chance gegen den Lügen-Rambo Trump hätte. Was das für die Ukraine, was das für die NATO und für uns Europäer bedeuten wird, kann man sich nicht schaurig genug ausmalen. Für die Grünen gibt es da nichts zu gewinnen; deshalb dürfte Annalena Baerbock der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur für ihre Partei nicht schwergefallen sein. Dass die (noch) amtierende deutsche Außenministerin ihre Entscheidung in Amerika verkündete, macht sie auch nicht bedeutsamer.
Derweil geht der deutsche Wechselsommer ohne Märchen weiter. Unser Team schlug sich weit besser als befürchtet und schied unglücklich gegen die großartigen Spanier aus. Die Verlängerung erlebten wir – offline versteht sich – im Zelt am Roten Rathaus. Dort spielte die Komische Oper Berlin vier Wochen lang vor ausverkauftem Haus die Operette “Messeschlager Gisela” von Gerd Natschinski. Während der in jeder Beziehung harmlosen Schmonzette aus der Modewelt wurde das begeisterte Publikum en passant über das Ergebnis des Spiels informiert. Draußen war die Stimmung nach der unglücklichen Niederlage überhaupt nicht aufgeheizt oder aggressiv. Man bewunderte den von einem Sponsor illuminierten Fernsehturm und ging an diesem frischen Abend seiner Wege. Von dort ist es nach Kiew deutlich kürzer als etwa nach Madrid. Daran kann man nicht immer denken. Wir sollten es aber nicht vergessen.
Erk Walter
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