Ist das ein Zufall? Das Programm im Herbst 2023 im Neuen Theater Höchst heißt “SPIN! - Das neue Varieté dreht sich” und die 60. Ausgabe des JazzFest Berlin hat “Spinning Time” als Titel gewählt. Die Zeit scheint schneller zu vergehen, die Welt ist aus den Fugen. Jeden Morgen höre ich intensiv Radio, dann erst wieder spätabends. Tagsüber mache ich meinen Job wie immer. Diese Normalität schafft Distanz zu den Kriegen und Katastrophen in der Welt. Dieser Abstand gaukelt eine Sicherheit vor, die es nie gab und nie geben wird. Um so wichtiger sind kleine Fluchten ins Kino, ins Varieté oder ins Konzert. Die Illusion, einige Stunden alles zu vergessen, muss sein. Maik Paulsen hat mit jungen Artist:innen ein wunderbar leichtes, poetisches Programm zusammengestellt, das ganz auf eine Conférence verzichtet. Die überaus sympathische Truppe feierte mit “SPIN!” ihren Abschluss bei der Staatlichen Artistenschule in Berlin und tourt seitdem mit dieser Show.
Da wird keine seelenlose Perfektion zelebriert, sondern ein lockeres, witziges Programm mit originellen Ideen gezeigt, kurzum: “SPIN!” kommt gut rüber. Die Artist:innen wirken bei aller Hochleistung nahbar, menschlich; in einer Runde mit ihnen würde sich auch Robert Habeck wohlfühlen. Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister hat die Gabe, klar, deutlich und glaubhaft zu sprechen. In einer knapp zehnminütigen Videobotschaft hat Habeck in wünschenswerter Deutlichkeit zum Antisemitismus hierzulande von rechts und von links (!) Stellung bezogen und erneut darauf hingewiesen, dass die hier lebenden Juden & Jüdinnen nicht für die Politik Israels verantwortlich sind. Es ist bedrückend & beschämend, was Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt Habeck berichteten. Die Kinder haben Angst in die Schule oder in den Sportverein zu gehen. Die Eltern haben Angst, ein Taxi zu nehmen, und schreiben Briefe ohne Absender, um die Empfänger zu schützen. “Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.”
Robert Habeck, der als Wirtschaftsminister Fehler gemacht hat und dafür einstand, hat eine Rede gehalten, die dem Kanzler gut zu Gesicht gestanden hätte. Wenn die Situation Israels wirklich deutsche Staatsräson ist, hätte Deutschland gegen die UN-Resolution stimmen müssen, ohne Wenn und Aber. Stattdessen lavierten Olaf Scholz und seine Außenministerin herum, und der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin fand dürftige Erklärungen für dieses unsägliche Verhalten. Habeck bekam für seine Rede einhelligen Beifall in den Kommentaren. “Hier spricht nicht der grüne Klimaminister”, heißt es etwa in der Ulmer Südwest Presse. “Hier spricht ein Staatsmann, der keine Angst davor hat, unbequeme Tatsachen auszusprechen. Damit knüpft er an die Anfänge der Regierungszeit an, als der Super-Pragmatiker angesichts von Energieknappheit grüne Überzeugungen hinten anstellte, in Umfragen beliebtester Politiker war und Kritiker neidisch auf seinen Kommunikationsstil blickten. Mit dieser einen Videobotschaft hat Habeck seine parteiinterne Kontrahentin, Außenministerin Annalena Baerbock, düpiert und sich im Rennen um die Kanzlerkandidatur nach vorne katapultiert.“ (03.11.24) Heute Abend geht die “Spinning Time” weiter. Zweiter Tag des JazzFest Berlin.
Erk Walter
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