© Karl Grünkopf
Wie ein Menetekel hängt das Schild noch immer in der Ortsmitte.
Nach dem heiteren Beginn kam das bittere Erwachen bei der documenta fifteen in Kassel. Es war ein Scheitern mit Ansage, denn seit Monaten kursierten Gerüchte, dass die künstlerische Leitung, die indonesische Kollektiv ruangrupa, mit BDS sympathisiere, also einer internationalen Bewegung, die „Boycott, Divestments and Sanctions“ gegen Israel propagiert. Inzwischen wurde das 20 Jahre (!) alte Grossplakat der indonesischen Gruppe Taring Padi mit antisemitischen Motiven am Friedrichsplatz entfernt, inzwischen will man den gesamten Bestand an (teils temporären) Kunstwerken auf der documenta fifteen sichten, inzwischen hat Kanzler Olaf Scholz seinen Besuch in Kassel abgesagt, inzwischen fordert die “Jüdische Allgemeine“ den Rücktritt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Der Imageschaden für die Stadt Kassel und die documenta sind überhaupt nicht abzuschätzen. Sascha Lobo titelt seine Kolumne im Nachrichtenmagazin Der Spiegel “Willkommen bei der Antisemita 15“, und die “Süddeutsche Zeitung“ spricht von einem “einzigen Scheitern.“ Der Eklat bei der documenta fifteen, der “Antisemismus mit langer Ansage“ (Lea Rosh) wird Konsequenzen haben: konzeptionell und personell.
Solche Handlungsoptionen gibt es in der Welt der großen Politik derzeit leider nicht. Es war naiv anzunehmen, dass ein Embargo von fossilen Energieträgern aus Russland nach deutschem oder europäischen Gusto ohne Reaktion bleiben würde. Derzeit liefert Russland nur noch 50% der üblichen Menge vor dem Angriff auf die Ukraine - und erzielt damit die gleichen Einnahmen. Damit entpuppt sich das gut gemeinte Embargo als Inflationstreiber, das weder Europa noch der Ukraine hilft. Der Winter wird nicht nur hart und kalt; es droht, da quasi alle Preisen steigen, eine Rezession. Wie der Finanzminister Christian Lindner 2023 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen will, ist nicht nachvollziehbar. „Wir sind die Gestalter und Gestalterinnen unseres Schicksals“, verkündete er selbstgewiss im heute journal des ZDF (21.06.22) Das muss er wohl als Politiker, obwohl sogar Klein-Hänschen weiß, dass dieser Satz unwahr ist, in einer vernetzten Welt zumal.
Versuchen kann man indes schon, das Schicksal zu gestalten. Jahrelang kämpften die Bürger:innen in Brandenburg gegen einen Truppenübungsplatz in Wittstock. Bis 1993 (!) wurde das sog. Bombodron von der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) genutzt (Wikipedia). Dann übernahm die Bundeswehr das Gelände und wollte einen Luft-Boden-Schießplatz errichten; 1.700 Flugstunden pro Jahr waren geplant. 2011 wurden die Pläne endgültig begraben; die Protestmärsche waren letztlich also erfolgreich. Zweifel sind angebracht, ob diese Entscheidung auch heute noch gefällt würde, da eine militärische Konfrontation zwischen Russland und der NATO nicht mehr ausgeschlossen werden kann. In seinem Lied “Heute hier, morgen dort“ singt Hannes Wader „dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war.“ Gestern feierte der Barde, der zu seinen Widersprüchen steht, seinen 80. Geburtstag. „So vergeht Jahr um Jahr.“ Die Vögel zwitschern, der Wind rauscht leise in den Blättern, schon zum zweiten Mal an diesem Tag heulen die Sirenen. Unsere Zukunft scheint ungewisser denn je.
Erk Walter
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