© Rolf Hiller
Buchstabenskulptur vor dem Haus der Berliner Festspiele.
Was für ein 6. November, was für eine Woche! Am letzten Donnerstag begann das Jazzfest Berlin im Haus der Berliner Festspiele. Hatte man im letzten Jahr die 60. Ausgabe des Festivals gefeiert, wurde heuer auf das Jubiläum verwiesen; die ersten Berliner Jazztage – so der damalige Name – fanden 1964 statt. Nach dem Abschluss wurden in einer Pressemitteilung Erfolge gemeldet: für 24 Konzerte wurden 6.370 Tix ausgegeben. Freilich lässt sich nicht übersehen: das Publikum ist noch älter als das Festival, allen Bemühungen der rührigen Festivalleiterin Nadin Deventer zum Trotz. Einen Überblick über alle Veranstaltungen konnte sich niemand verschaffen; die beiden Jazzfest Labs (Community und Research) gingen an vielen vorbei. Ich hätte mir gewünscht, dass interessante Konzerte nicht zur gleichen Zeit stattfinden, etwa zwei Weltpremieren. Wer sich in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche aufgemacht hat, musste das Debüt des neuen Trios von Joachim Kühn verpassen.
Diesen stürmisch gefeierten Auftritt des Tastenlöwen mit den beiden jungen phantastischen Musikern Thibault Cellier (b) und Sylvain Darrifourcq (dr) wird man in Erinnerung behalten. Nicht minder entfesselt spielte das englische Trio Decoy, allen voran Alexander Hawkins an der Hammondorgel. Nie gelingt es dem bald 85-jährigen Joe McPhee (ts) an diesem Abend, mit den beiden mitzuhalten. Wunderbar von innen glühend das Konzert des Joe Lovano Trio Tapestry mit Marilyn Crispell am Klavier, die man tags zuvor bei einer ihrer seltenen Solo-Improvisationen erleben konnte. Die Auftritte des Sun Ra Arkestra und der japanischen Otomo Yoshihide Special Big Band können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch im Jubiläumsjahr nicht viel zu entdecken gab. Oder sollte man die französische Pianistin Sylvie Courvoisier dazu zählen, die bereits das dritte Mal hintereinander beim Jazzfest Berlin auftrat? Freunde hatten den richtigen Riecher und blieben dem Jubiläum unter dem Motto “Still Digging” fern. Einer schrieb: “Das Programm hatte mich auch nicht so richtig erotisiert, verpasse ich was?” Hat er nicht.
© Rolf Hiller
Der Afrofuturismus des Sun Ra Arkestra klingt erstaunlich konventionell.
Zwei Tage später gibt es die nächste Ernüchterung. In der Nacht verfolge ich im Radio den Ausgang der Wahl in Amerika. Am Morgen steht dann fest: Kamala Harris hat klar verloren, trotz der prominenten Unterstützung vieler Superstars mit Millionen Followern in den Socials. Ihr gelang es nicht, gegen Donald Trump eigene Themen zu setzen. Der versprach, die Probleme Inflation und Migration zu lösen, und hatte die Unterstützung einflussreicher Tech-Milliardäre wie Jeff Bazos und Elon Musk, die man in ihrem Gebaren getrost als Oligarchen bezeichnen darf, wie das der deutsche Politologe Jan-Werner Müller von der Princeton University in New York tut. Am Abend hat dann die Ampel ihre Zukunft hinter sich und Deutschland nur noch eine geschäftsführende Regierung. Sollte eine Neuwahl erst im März stattfinden, droht ein monatelanger politischer Stillstand. Eine blanke Katastrophe in dieser Zeit. Am 9. November vor 35 Jahren fiel die Mauer; die Trennung aber besteht weiter. Das hätte wohl niemand damals prophezeit.
Erk Walter
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