© Karl Grünkopf
Touristische Trutzburg oberhalb von Kamilari.
Hurra, wir fliegen wieder. Erstaunlicherweise ist die Maschine nach Heraklion so wenig gebucht, dass die Passagiere der ersten drei Reihen weiter nach hinten versetzt werden - aus statischen Gründen. Wir sitzen am mittleren Ausgang mit maximaler Beinfreiheit. Als Urlaubslektüre haben wir natürlich die neue Pásztor dabei, denn „Die Geschichte von Kat und Easy“ spielt im fiktiven Ort Laustedt irgendwo im Nirgendwo der alten Bundesrepublik und auf Kreta. Susann Pásztor erzählt fesselnd vom Coming of Past zweier Frauen, die sich lange aus den Augen verloren hatten und bei einem gemeinsamen Urlaub klären wollen, was einst bei einer Ménage à trois geschah. Die erste Annäherung auf der Insel findet in einer Taverne statt - „ganz frei von Touristen“. Das kennen wir gut: peinlich sind immer die Anderen! Dabei sind wir allesamt ein Wirtschaftsfaktor und tragen natürlich zur globalen Klimaerwärmung bei.
„Zwischen dem 11. und 17. Oktober“, schreibt die deutschsprachige Griechenland Zeitung in ihrer aktuellen Ausgabe, “werden voraussichtlich 516.000 Menschen auf griechischen Flughäfen landen, darunter mindestens 157.826 (sic!) Deutsche.“ Das deckt sich mit unseren Beobachtungen - es ist viel los in Pitsidia, und am Strand von Komos. Die Straßen sind so voll wie nie zuvor, berichtet ein alter Freund, den wir zufällig wiedertreffen. Er kommt seit Jahrzehnten auf die Insel und wohnt natürlich immer bei Nikos, der sein Hotel nur noch für Stammgäste betreibt und ganz bewusst auf eine Präsenz im Internet verzichtet. Alles scheint noch zu sein wie bei unserem letzten Besuch vor zehn Jahren. Am Strand gibt es immer noch Verschläge, in denen Hippies wohnen; manche haben sich kleine Küchen mit Windschutz aufgebaut. Seit Jahrzehnten verkauft Uwe jeden Tag seinen Kuchen an die Nackerten der Silver Generation.
© Karl Grünkopf
Mitten in Kamilari stehen Häuser leer und verfallen. Unter den Bougainvilleen die Taverne Akropolis, wo man ohne Reservierung abends kaum einen Platz bekommt.
Doch die Idylle am Strand trügt. Schon bei flüchtigem Blick sind die touristischen Trutzburgen auf den Hügeln zu erkennen - Aussicht, Klimaanlage und Pool inklusive. Wir wohnen zwar nicht in einer solchen Anlage, aber auch in einem Neubaugebiet; unser Haus (ohne Pool) am Hügel ist bestens mit allen Elektrogeräten inkl. Air-Condition ausgestattet. Die Insel erlebt einen Bauboom sondergleichen, während in den kleinen Dörfern viele Häuschen leer stehen und verfallen. Nun gab es in den griechischen Dörfern immer schon Ruinen. Dieser morbide Charakter beeindruckt nicht weniger als das entspannte Leben dort, das ohne offensichtliche Reglementierungen auskommt. In Kamilari gibt es keine Ampeln, Kreisel, Einbahnstraßen und Verkehrsschilder - Fußgänger, spielende Kinder, Zweiräder, Autos, Lieferwagen, Geschäfte und Tavernen teilen sich den öffentlichen Raum ohne Probleme. Die Orte und Plätze leben; hier könnte die deutsche Städteplanung einiges lernen. Bleibt zu hoffen, dass unser Sehnsuchtsort den Immobilienboom halbwegs unbeschadet überstehen kann. Wenn wir nicht mehr in Urlaub fahren, ändert das ja auch nichts. Sagen die Touristen.
Erk Walter
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