© Qinglin Meng
Seit Februar 2024 ist Dieter Ripberger der neue geschäftsführende Direktor des Staatstheaters Kassel. Wer sich mit seiner beeindruckenden Vita befasst, kann nur feststellen, dass er die richtige Person für diese Position ist. Ripberger hat in Hildesheim Philosophie, Künste und Medien studiert. Danach erwarb er einen Master in Arts Administration an der Universität Zürich. Er war Referent für Kulturpolitik im Deutschen Bundestag, arbeitete am Thalia Theater und am Theater Konstanz – zuletzt hat Ripberger das Institut für Theatrale Zukunftsforschung (ITZ) am Tübinger Zimmertheater als Intendant und Geschäftsführer geleitet. Wir haben ihn zum Interview eingeladen, um mit ihm über das Theater in Zeiten der Polykrise, den Projektstart für die Interimsspielstätte des Staatstheaters und die kommende Spielzeit zu sprechen.
Sie bilden gemeinsam mit Intendant Florian Lutz die Doppelspitze des Staatstheaters. In Anbetracht der großen gesellschaftlichen Herausforderungen: Wie sehen Sie die Rolle des Theaters in Zeiten der Krisen und der Kriege?
Man muss aufpassen, das Theater und die Künste generell nicht zu überfrachten mit gesellschaftspolitischen Diskursansprüchen. Unsere Stärke ist die Autonomie. Damit rede ich nicht denen das Wort, die in Zeitgenossenschaft, in Überschreibungen, in Aktualisierungen des Repertoires oder Projekten den Niedergang des Theaters sehen. Ganz im Gegenteil – wir müssen uns verändern, um weiterhin breite gesellschaftliche Relevanz zu haben. Zwar finden viele Menschen kulturelle Angebote abstrakt wichtig, ein großer Teil der Gesellschaft geht aber nicht hin. Das muss uns Verpflichtung sein, immer wieder neue Anläufe zu unternehmen, auf die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Interessen und Motiven zuzugehen.
Man darf dabei aber nie vergessen, dass die subversive Kraft der Künste genau daher rührt, dass sie nichts müssen – gar nichts. Anders als Netflix skripten wir nicht nach Kriterien der Marktgängigkeit. Ihre Unbestechlichkeit, ihre Unmittelbarkeit und auch ihre potenzielle Radikalität haben in diesem freiheitlichen Kern ihren Grund. Deswegen ist die öffentliche Förderung der Künste kein Schönwetterprogramm, sondern im Kern eine demokratische Pflichtaufgabe. In Zeiten der Polykrise, wo breite Teile der Gesellschaft ein Gefühl von Erschöpfung und Verzagtheit teilen, interpretiert das Theater seine Aufgabe differenziert. Die Bühne ist immer ein Spiegel der Zeit, und übrigens sieht jeder und jede, der oder die hineinschaut, etwas Eigenes. Im Theater kann man beim Blick auf die Bühne eine Außenperspektive auf sein eigenes Inneres einnehmen. Aus dieser Lage wird die eigene Wahrnehmung hinterfragbar: Wie könnte es noch sein, wenn es nicht so ist, wie ich gemeinhin denke und wahrnehme? Wir trainieren beim Theaterbesuch quasi einen Muskel, den Möglichkeitssinn. Damit sind wir sowas wie ein Fitnessstudio für Geist und Sinne. Ich kenne viele Menschen, für die der Theater- oder Konzertbesuch ein echter Schutzschild ist gegen den Lärm der Welt, das Tempo, die Dauerverfügbarkeit und die Nachrichtenflut.
Zurück zur Eingangsfeststellung: Direktor und Intendant leiten das Theater als gemeinsame Bühnenleitung. Es ist wichtig, ein tiefes Verständnis für den Zuständigkeitsbereich des jeweils anderen zu haben. Man muss das Theater als Organismus betrachten und alle Mitarbeitenden motivieren, mit dieser Brille auf die Organisation zu schauen. In freier Anverwandlung unseres Bundesphilosophen Julian Nagelsmann: Es geht nur gemeinsam.
Hat sich Theaterlandschaft nach Corona verändert? Was ist für Sie die massivste Veränderung?
Die Zeit der Pandemie hat tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Sie zeigen sich mittelbar und unmittelbar. Manche haben es sich schlicht abgewöhnt, Zeit in Gesellschaft zu verbringen, und sich auf andere Angebote der Freizeitgestaltung verlagert. Andere müssen jeden Euro zusammenhalten und halten sich aus finanziellen Gründen zurück. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine neue Begeisterung für das Live-Erlebnis – viele gehen sehr viel öfter ins Theater als vor der Pandemie. Einheitlich ist dieser Trend nicht, und vielleicht ist das die massivste Veränderung: dass es weniger Konstanten gibt. Überhaupt hat sich eine gewisse Binarität und Polarisierung eingestellt, es gibt weniger Bereitschaft, auch eine andere Ansicht gelten zu lassen.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nennt das „die große Gereiztheit“. Im Kulturbereich stellt uns das vor die Herausforderung, mit dieser Zunahme der Singularisierung klarzukommen. Menschen entscheiden sich viel kurzfristiger, ob sie eine Aufführung besuchen wollen. Stark verändert hat sich auch die Situation in den Theaterbetrieben selber. Es gibt ein stärker ausgeprägtes Risikoempfinden und damit eine wachsende Herausforderung, immer einen Plan B in der Tasche zu haben. Wir sind zwischenzeitlich Meister im Backups planen, und wenn jemand einen Orden verdient hat, dann die Mitarbeitenden in den Künstlerischen Betriebsbüros der Theater und Orchester in Deutschland – was da nötig war und ist, um den Spielbetrieb zuverlässig am Laufen zu halten, ist beinahe übermenschlich.
Wenn Sie an die ersten 100 Tage denken. Was werden Sie nie vergessen?
Noch vor Amtsantritt war ich zu einer Personalversammlung eingeladen, auf der ich mich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorstellen durfte. Mein Navi empfahl mir eine Abkürzung und so fuhr ich viel zu früh im Süden von der A7 ab. Nur: Es war ein Tag mit Schneeregen in ganz Deutschland – ich fuhr also wirklich abenteuerliche Wege, viel zu viele Stunden über Stock und Stein bis nach Kassel. Als ich spät abends ankam, wurde ich an der Pforte mit den Worten begrüßt: „Jetzt sind Sie ja da, jetzt kann nichts mehr schiefgehen.“ Das fand ich eine wunderbare Begrüßung und ich erinnere mich oft daran, fast immer, wenn ich das Theater betrete. Das zeigt, wie wirksam wertschätzende, positive, freundliche Kommunikation ist. Ein nettes Wort, ein empathischer Satz. So kann jeder und jede einzelne in seinem Umfeld einen großen Unterschied machen. Das mit der Abkürzung werde ich aber auch nie vergessen: Man muss immer auf die Randbedingungen schauen, um zu bewerten, ob eine Abkürzung eine gute Idee ist oder nicht.
Eine weitere Baustelle ist die Ersatzspielstätte für das sanierungsbedürftige Große Haus des Staatstheaters. Der Standort ist gefunden und der Baubeginn der Ersatzspielstätte ist für den Herbst 2024 anvisiert. Planungsstand heute?
In der ersten Juliwoche haben wir gemeinsam mit Minister und Oberbürgermeister den Projektstartschuss verkündet. Nach dem Sommer wird man auf dem Areal der ehemaligen Jägerkaserne schon richtig was sehen. Um den Jahreswechsel sollte die Gebäudehülle stehen. Es ist ein sensationell speditives Projekt. Ich sage das bewusst so, weil eine Firma mit schweizer Wurzeln gefunden wurde, die absolute Top-Profis für Kulturbauten sind. Die machen Events vom Schlage des ESC und bauen für Olympia in Paris, haben das Interim für den Münchner Gasteig mit seiner gerühmten Akustik realisiert. Ich glaube fest daran, dass wir die Spielzeit 2025 pünktlich in unserer neuen Spielstätte begehen werden. Sie wird auf jeden Fall aufsehenerregend sein und tolle künstlerische Möglichkeiten bieten. Das sollte sich niemand entgehen lassen.
Wenn's ums Glück geht, liegt Kassel unter den 40 größten Städten der Bundesrepublik ganz vorn. Das zeigt der SKL-Glücksatlas 2024, der in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg erstellt und kürzlich veröffentlicht wurde. Das konnten Sie zu Beginn der Bewerbungsphase noch nicht wissen. Warum haben Sie sich für Kassel entschieden?
Offenbar bin ich ein Glückspilz. Kassel hatte ich schon lange auf dem Schirm, zur Documenta war ich regelmäßig hier und habe auch Freunde in der Stadt. Außerdem liegt Kassel ideal in der Mitte Deutschlands – ideal für meine zwischen Flensburg und Göppingen zerstreuten Familienhälften. Ich mag außerdem, dass von Kassel aus nix weit weg ist. Oder alles nah dran. Hauptgrund aber war, dass das Staatstheater Kassel einen hervorragenden Ruf genießt und man bundesweit auf das innovative Profil schaut, das Florian Lutz mit seinen Spartenleitungen hier etabliert.
Was bedeutet Glück für Sie persönlich?
Ich habe darauf viele längere und eine ganz kurze Antwort. Glück, das ist, wenn man gut schlafen kann. Ich weiß nicht mehr, bei wem ich diese Formel borge, aber ich habe den Satz im Zusammenhang mit einem Seminar gelesen, das sich mit der Lebenskunst beschäftigte. Mein Philosophiestudium hat mich viel über das Glück gelehrt – und war selbst eines.
Sie sind und waren als Kulturmanager, Intendant und Dramaturg tätig. Woher kommt die große Leidenschaft für das Theater?
Ziemlich sicher hat das mit der vorangegangenen Frage mehr zu tun, als ich selbst denke. Im Theater ist Raum, sich selbst zu beobachten. Damit ist es auch ein Ort, sich selbst neu zu entwerfen, anders zu imaginieren. Daraus entsteht das Potenzial, sich in Verbindungen zu anderen neu zu sehen – Konflikte und Konstellationen zu beobachten, ihre Struktur zu erkennen. Es lehrt uns Dinge über uns selbst und andere. Es lehrt uns etwas über uns als Gemeinschaft. Das macht es zum Spiegel der res publica, der Sache, die alle angeht. Deswegen ist Theater wichtig für die Demokratie. Es ist ein utopischer Raum, ein magischer Ort.
Eine Zeitkapsel beamt Sie in jede beliebige Zeitepoche. Welcher Inszenierung hätten Sie gern beigewohnt?
1830 wäre ich gerne in Paris gewesen. Da tobte die in die Theater- und Literaturgeschichte eingegangene „Schlacht um Hernani“ – aufgeführt wurde Victor Hugos Schauspiel „Hernani“. Die konservativen Traditionalisten und die einer moderneren ästhetischen Form zugetanen Romantiker waren sich so uneins, dass sie sich regelrecht an die Gurgel gingen. Ich finde es richtig gut, wenn die Fetzen fliegen und beim Schlussapplaus ein Sturm aus Buhs und Bravos tobt. Aber bitteschön ohne körperliche Aggression! Dann hat man lebendiges Theater gesehen, das die Menschen berührt hat, aufgewühlt hat – so oder so. Wie wunderbar, dass es im Theater kein richtig oder falsch gibt. Nur Langeweile, das verbietet sich.
Auch in der kommenden Spielzeit wollen Sie den Balanceakt zwischen Tradition und Moderne und Kontinuität und Innovation stemmen. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich liebe das Musical „La Cage aux Folles“, vermutlich auch wegen meiner Frankophilie – das Stück erlebte seine Uraufführung 1973 in Paris. Das Stück ist nicht nur irre unterhaltsam und musikalisch umwerfend, sondern vermittelt auch einen universellen Humanismus. Moralischer Rigorismus und Homophobie werden als das ausgestellt, was sie sind: lächerlich und menschenverachtend. Ich kann es nicht bis zur Premiere am 12. Oktober erwarten!
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit, wünschen allen Beteiligten einen erfolgreichen Aufbau der Interimsspielstätte und freuen uns auf ein Wiedersehen in der neuen Spielzeit mit vielen spannenden Premieren im September.