
© Nicole Marianna Wytyczak
Nackt auf der Halfpipe: Szene aus der Performance „Sancta“ von Florentina Holzinger.
Mit diesen Worten begann der Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, seine Rede zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens. Sie hätten auch gut zum Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang gepasst. Nie zuvor ist ein Kanzler-Kandidat hier durchgefallen; knapp war es allerdings auch früher schon zweimal. Konrad Adenauer (1949) und Helmut Kohl (1994) schafften mit nur einer Stimme Vorsprung im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Die politischen Konsequenzen dieser Schlappe lassen sich noch nicht ermessen: „Adolf Hitler”, schreibt die Rhein-Neckar-Zeitung, „hat sich die Macht am 30. Januar 1933 nicht genommen. Sie wurde ihm überreicht. Es waren die Demokraten selbst, die die Demokratie in die Hände der Nazis legten. Und das bleibt unverzeihlich. Genau dieses Szenario stand am gestrigen Dienstag erneut bedrohlich über dem Himmel der Berliner Regierungszentrale: Eine Hand voll Abgeordneter aus Reihen von Union und SPD riskierten den Zustand der Unregierbarkeit, indem sie Merz ihre Stimme verweigerten.” (07.05.25)
„Willkommen im Abgrund“ – Matthias Pees zielte damit allerdings auf die aktuelle Situation in der Berliner Kultur ab. Nach einem Etat-Cut von über 10% in diesem Jahr, drohen 2026 weitere herbe Einschnitte, die sich nicht mehr aus Rücklagen finanzieren lassen. Für die Hauptstadt ist die Kultur ein wichtiger Standortfaktor; zudem gibt es historisch bedingt in Berlin mehr Institutionen als in Städten vergleichbarer Größe. Kultur ist aber beileibe nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein eigen- und widerständiger Ort gegen den Mainstream einer Gesellschaft. Pees erinnert an eine Parole, die vor dreißig Jahren in der Volksbühne die Runde machte: “Wer im Abgrund lebt, hat das Gröbste hinter sich.” Das Fragment von Hölderlin, auf das er sich in seiner beeindruckenden Rede bezieht, schließt nicht ohne dialektische Hoffnung auf die Widerständigkeit der Vernunft. Das Theater sei ein Möglichkeitsraum. “Für Wege aus dem Abgrund. Aus der Angst”, schließt Pees. Es ist an uns allen, diesen Raum zu bewahren.
Das gilt besonders für Florentina Holzinger, die mit ihren Performances Unerhörtes auf die Bühnen bringt. Ihr aktuelles Stück ist inspiriert von der Kurzoper “Sancta Susanna” von Paul Hindemith. Bei Holzinger wird indes nicht die Tugend gefeiert, sondern die sexuelle Selbstbestimmung der Nonnen, die sich vom Kreuz der Kirche befreien. Wie gewohnt sind die Performerinnen nackt, wie gewohnt gibt es opulente Bilder, wie gewohnt erleben wir Live-Piercings oder -Ritzen. Nackt sind die Artistinnen mit Inlinern auf einer Halfpipe unterwegs, ein Roboter transportiert Menschen, kurze Lebensbeichten und -wünsche sind zu hören, mal ist es Varieté, dann wieder Klamauk, mal wird das Publikum direkt animiert, dann albert ein weiblicher Jesus vor sich hin – trotzdem zieht sich die Performance allem Aufwand zum Trotz. Niemand musste wie bei der Aufführung in Stuttgart medizinisch betreut werden, niemand verließ vorzeitig die Volksbühne. Begeisterter Applaus. „Florentina Holzinger holzingert halt”, befand Manuel Brug in der “Welt”. Beim nächsten Mal ohne uns.
Erk Walter
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