© Die Schmiere
Sarkasmus statt Perspektive
"Eine Absenkung der Umsatzsteuersätze vom 1. Juli an ist absoluter Wahnsinn", befindet Harald Elster, der Präsident des Steuerberaterverbands, obwohl seine Zunft davon ordentlich profitieren dürfte. Über neue Jobs können sich auch EDV-Spezialisten freuen; und die Abmahnvereine gehen schon in Position. In zweieinhalb Wochen müssen Rechnungswesen und Warenwirtschaftssysteme umgestellt werden, Preise neu kalkuliert und Verträge angepasst werden. Die Bundesregierung lässt sich die bis zum 31.12.20 befristete Absenkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16% (bzw. von 7 auf 5%) 20 Milliarden Euro kosten - und hofft auf den "Wumms" ihres gewaltigen Konjunkturpakets, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufangen. Der Erfolg bleibt abzuwarten. Denn die "Menschen draußen im Lande", wie Politiker*innen es gerne formulieren, blicken besorgt in eine bange Zukunft. Viele haben Angst, über 7 Millionen sind in Kurzarbeit und müssen mit weniger Geld auskommen.
Sicher werden auch nicht alle Einzelhändler und Gastronomen die Mehrwertsteuersenkung an ihre Kunden weitergeben - wer wollte es ihnen verdenken. Denn diese Branchen sind von der Krise besonders betroffen. Die Innenstädte verzeichnen deutlich weniger Besucher, Restaurants & Kneipen lassen sich unter Beachtung der Abstands- und Hygieneregeln nicht einmal kostendeckend führen. Die Kleinen sterben still, die Großen werden alimentiert. Die Lufthansa muss mit staatlichen Krediten in Höhe von 9 Milliarden Euro vor der Insolvenz bewahrt werden - und will jetzt trotzdem noch 26.000 Jobs streichen. Im letzten Jahr hat Europas größte Airline noch mit einem bereinigten Betriebsergebnis von 2 Milliarden abgeschlossen. Wie geht dem? Hat die Corona-Pandemie wie im Zeitraffer gnadenlos die Strukturprobleme eines Konzerns bloßgelegt wie bei Galeria Karstadt Kaufhof? "Wir werden in eine Rezession ungeahnten Ausmaßes kommen. Der Lockdown wird zum Shockdown. Ausgang ungewiss." Das hatte ich bereits am 10. April notiert und würde mich zu gerne eines Besseren belehren lassen.
Unverschuldet hat der Lockdown dagegen die Veranstalter getroffen - noch immer gibt es keine Perspektiven für eine Branche, die auch wirtschaftlich von großer Bedeutung ist. In der Ausgabe 06/20 von FRIZZ Das Magazin für Frankfurt & Vordertaunus schildert Ralf Scheffler, der Inhaber der Batschkapp, er müsse womöglich zusehen, "(...) wie mein Lebenswerk an die Wand gefahren wird - und zwar ohne eigenes Verschulden." Dieser 1976 gegründeten Frankfurter Institution ergeht es wie der "Schmiere": Das legendäre Kabarett will am 9. September seinen 70. Geburtstag feiern. Nach den derzeitigen Regeln darf die Prinzipalin Effi Rolfs auf den 92 Sitzplätzen ganze 9 Paare und 12 Einzelpersonen platzieren. Da hilft auch keine Mehrwertsteuersenkung.
Erk Walter
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