
© Rolf Hiller
Lichtprojektion zur Erinnerung an die Verhüllung des Reichstags 1994.
Die Aktion fiel in der Kritik durch. Trotzdem schwingen wir uns auf die Räder und fahren zum Reichstagsgebäude, das vor dreißig Jahren von Christo & Jeanne Claude verpackt wurde. Jahrelang hatten die beiden Künstler um dieses Projekt kämpfen müssen. Am 25.02.1994 stimmten 53% der Bundestagsabgeordneten für die Verhüllung des Reichstags – Kanzler Helmut Kohl und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble (beide CDU) waren dagegen. Aber ihre Parteikollegin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth konnte genug Konservative für das sagenhafte Unterfangen gewinnen – zum Glück. Fünf Millionen Menschen erlebten damals die Magie des hinter Polyproylen verschwundenen Reichstags, und viele schwärmen noch heute davon. Leider habe ich nie ein Projekt von Christo & Jeanne Claude erlebt; bei ihrer letzten Aktion in Paris 2021 war ich zumindest per Live-Stream dabei. Und von dem Zauber der Reichstagsverhüllung 1994 bekommt man durch die riesige Lichtprojektion zumindest eine Ahnung. Dabei fällt mir plötzlich ein, dass Demonstranten am 29. August 2020 versucht hatten, das Reichstagsgebäude zu stürmen.
Die Gegner der Demokratie sind seitdem nicht weniger geworden, im Gegenteil. Um so wichtiger, dass unsere Demokratie den Feinden dieser Regierungsform nicht in die Hände spielt. Die Affäre um den ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn um das dubiose Procedere bei der Beschaffung von Masken hat wieder einmal das Zeug dazu. War der Titel seines Buches “Wir werden einander viel verzeihen müssen” unwissentlich-wissend, um eine schöne Formulierung Arthur Schnitzlers aufzunehmen, auch darauf gemünzt? Dem Steuerzahler drohen durch Jens Spahns abenteuerliche Beschaffung von Masken um jeden Preis Kosten in Milliardenhöhe. Der jetzige Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion gedenkt, diesen Skandal bräsig auszusitzen. Eine eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestags zur Klärung des Skandals dürfte Monate, wenn nicht Jahre brauchen, um ihr Ergebnis vorzulegen. Warum wird ein bereits vorliegender Sonderbericht nicht vollständig veröffentlicht? Teile davon kursieren bereits mit Schwärzungen.
Die Causa Spahn belastet nicht nur diesen allzu wendigen Politiker, sie belastet unsere Demokratie insgesamt. Die viel zitierten ‘Menschen draußen im Lande’ wollen ernst genommen werden. Man kann ihnen mit guten Gründen erklären, warum die Aussetzung der Schuldenbremse notwendig ist. Nicht aber, warum die Strukturreformen bei Rente & Krankenversicherung nicht angepackt werden, warum Vermögen nicht fair besteuert werden, warum Weltkonzerne ihre Gewinne nach Belieben verschieben können. Am Wochenende hält die SPD ihren Bundesparteitag in Berlin ab – “Veränderung beginnt mit uns”, so das Motto. Sicher wird Lars Klingbeil wieder zum Vorsitzenden gewählt, obwohl er für den Wahlkampf und das schlechteste Ergebnis seiner Partei bei einer Bundestagswahl (16,4%) mit verantwortlich ist. Statt Saskia Esken tritt dieses Mal die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Bärbel Bas als Ko-Vorsitzende an. Derzeit steht die Traditionspartei in den Umfragen bei 15% (ARD-DeutschlandTREND Juni). Welche Veränderung beginnt denn mit der SPD? Das dürften sich nicht nur die Genossen & Genossinnen fragen.
Erk Walter
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