Das Haus, vor dem der Mord am helllichten Tag geschah, ist in den digitalen Karten verschlüsselt.
Die Nachricht erreicht uns unvermittelt am späten Abend. In unserem sog. gutbürgerlichen Wohnviertel wurde eine Frau am helllichten Tag vor ihrer Haustür erstochen; sie starb noch bevor der Rettungswagen eintraf. Wir sind schockiert, und mir geht diese ungeheuerliche Tat immer wieder durch den Kopf. Je näher Mord und Totschlag rücken, um so stärker berühren sie. Wie oft bin ich an der Jenaer Straße 24 vorbeikommen, vielleicht kannte ich das Opfer vom Sehen. Wer hat das getan? Warum wurde unsere Nachbarin ermordet? Die Kriminalpolizei sperrte nach der Tat die Straße ab, schlug für die Ermittlungen ein Zelt auf und suchte in den Vorgärten nach der Tatwaffe. Im Netz stoße ich (natürlich) auf die Bild Zeitung, die am ausführlichsten berichtet. “Die Frau hat sich nach dem Messerangriff vor dem Haus offenbar noch zum Gartenhaus geschleppt und ist dann dort zusammengebrochen. Das Opfer konnte noch ihren Mann rufen, der ihr helfen wollte. Wenig später trafen Sanitäter und ein Notarzt ein. Doch für die Frau kam jede Hilfe zu spät.”
Wir sind auf Hiddensee. Hier strahlt alles Ruhe und Frieden aus. Die autofreie Insel in der Ostsee vor Stralsund hat ihren eigenen Rhythmus und zieht die Gäste unweigerlich in ihre Zeit. Insulaner scheinen weiter weg zu sein von den Geschehnissen in der Welt, obwohl man hier wie überall ständig informiert sein kann. Man ist weg und trotzdem immer da. Der britische Publizist David Goodhart unterscheidet Somewheres, also Menschen, die ortsgebunden arbeiten müssen, von den Anywheres, die mit & dank der modernen Informationstechnologie überall auf der Welt ihre Tätigkeit ausüben können. Bei den Anywheres verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Was diese permanente Verfügbarkeit auf lange Sicht bedeutet, wird sich weisen. Was durch das Mobile-Office alles auf der Strecke bleibt, wird jetzt erst langsam erkannt: Kreativität wird durch persönlichen Austausch möglich und lässt sich nicht durch digitale Meetings ersetzen.
Entschleunigung ist auf Hiddensee nicht leeres Programm, sie wird täglich gelebt und erfahren. Das Leben läuft gemächlicher ab, mit menschlichem Maß. Es gibt wenige Angebote. Man kann nicht unter dutzenden Filmen, Bühneninszenierungen, Konzerten oder sonstigen Veranstaltungen wählen: es gibt eine oder keine. Diese Reduzierung von Komplexität ist ungeheuer wohltuend. Heute Abend wird das Figurenstück “Caspar David Friedrich – Stimmen aus dem Nebelmeer” gegeben. Vielleicht erfahren wir dann noch ein bisschen mehr über diesen Lieblingsmaler der Deutschen als (bis jetzt) in Florian Illies’ Hörbuch “Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten”. Nach einem entspannten Tag auf der Insel verfängt der Zauber bei mir ziemlich schnell. Mit einem Glas Roten schlafe ich rasch ein. Trotzdem will mir der Mord in unserer Straße nicht aus dem Kopf gehen.
Erk Walter
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