© Rolf Hiller
Fenster zum Hof: im Kräuterkasten brütet jetzt eine Amsel.
Selma who? Wir haben eine neue Mitbewohnerin. Sie kam nicht aus dem Internet, sondern aus der Luft und hat sich ihr Nest direkt vor unserem Fenster gebaut. Immer wenn wir in die Küche gehen, schauen wir sofort nach unserer Amsel. Sie ist überhaupt nicht schreckhaft und hat sich bei uns gut eingelebt. Dann und wann verlässt sie für kurze Zeit ihren Brutplatz, der um die Mittagsstunde besonders heiß wird. Dann atmet Selma mit offenem Mund, manchmal glauben wir ein leises Stöhnen zu vernehmen. Was Wunder, Selma brütet seit über zwei Wochen fünf Eier aus. Bald müssen die Kleinen schlüpfen; dann werden wir wohl ihren Herrn Gemahl Selmo kennenlernen. Die Idylle im Hof erinnert mich an ein Wort des Philosophen Theodor W. Adorno, dass "südliche Länder wolkenlose Tage kennen", von denen ausgehe, "nicht sei alles verloren, alles könne gut werden." Nichts ist gut. Die Klimaerwärmung geht unerbittlich weiter, das Eis in der Arktis schmilzt immer schneller, dem deutschen Wald geht es zunehmend schlechter, das Wasser wird auch hierzulande knapp.
Trotzdem sind wir wieder geflogen und beruhigen unser schlechtes Gewissen mit einer "Ablasszahlung" bei atmosfair. Auf meinem Hin- und Rückflug nach Mallorca habe ich 556 kg CO₂ verbraucht und 13 € für Klimaprojekte gespendet. Zum Vergleich: die Pro-Kopf-Jahresemission beträgt in Äthiopien 560 kg. Viele Inseln im Pazifik sind vom Untergang bedroht. Wir wissen, was wir tun, und handeln wider besseres Wissen. Unser Lifestyle ist das Problem. Sage nur niemand, er hätte das nicht gewusst. "Weniger ist mehr" hieß der Blog letzte Woche. In den Worten von Erich Kästner: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es".
So düster die Perspektiven langfristig sind, so optimistisch ist aktuell die Stimmung angesichts sinkender Inzidenzen und steigender Impfquoten. Das normale Leben kehrt endlich zurück. Gestern hatte ich meine erste Yoga-Stunde seit dem 22. Oktober letzten Jahres. Die Cafés und Restaurants sind draußen voll, allenthalben wird getan und geplant. Das Summer Special der Berlinale mit Open-Air-Veranstaltungen wirkt wie eine Initialzündung zurück in ein halbwegs normales Kulturleben. Heute startet die um ein Jahr verschobene Fußball-EM, und nicht weniger spannend dürfte der Parteitag der Grünen werden. Über 3.000 Änderungsvorschläge zum Wahlprogramm stehen auf der Agenda, und sicherlich wird die Basis die schlechte Performance ihrer Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck ins Visier nehmen. Das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt war bescheiden, das Umfragehoch ist passé. Willkommen in der Wirklichkeit!
Erk Walter
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