© Birgit Gudjonsdottir
Die Geschichte ist bekannt und berührt immer wieder: Kreuzabnahme bei den Passionsspielen in Oberammergau
Wie vom Navi geplant, treffen wir pünktlich in Oberammergau ein. Wie von der Wetter-App angekündigt, beginnt es ebenso pünktlich zu regnen. Alles ist in dem kleinen bayerischen Dorf mit 5.400 Einwohner:innen bestens organisiert. Der Transfer im vollen Bus vom Parkplatz in den Ort klappt reibungslos. Im Dauerregen durch die Menschenmengen zum Festspielhaus. Bei der Einlasskontrolle werde ich mit meinem Stockschirm, den ich mir im Hotel geliehen hatte, zurückgewiesen und muss ihn in einem Gepäck-Container deponieren. Wir drängen uns unter dem kurzen Dach vor unserem Eingang - und sind endlich drin in der riesigen Halle, die über 4.500 Plätze bietet. Natürlich gibt es die üblichen Probleme bei Großveranstaltungen - die Frauen stehen in langen Reihen vor der Toilette. Eine scheint es besonders eilig zu haben, sie entert das Männerabteil mit dem Ruf "Ist eine Kabine frei?" und gelobt "Ich gucke nicht, ich gucke nicht." Vorsorge aber ist in Oberammergau unbedingt von Nöten. Das Passionsspiel dauert fünf lange Stunden mit einer dreistündigen Pause nach der Hälfte der Zeit.
Wir sitzen hervorragend in der Mitte einer endlos langen Reihe auf Stühlen mit einem kleinen Polster. Trotzdem haben wir Decken & Kissen dabei und sind ansonsten ausgerüstet wie für eine winterliche Expedition. Ich stoße mit den Knien an den Vordersitz und fühle mich wie fixiert - das wird eine lange Passion. Ein frischer Wind ist zu spüren, denn hinter der Bühne ist es offen, wahrscheinlich um die vielen Mitwirkenden und die Tiere einzulassen. Die Atmosphäre ist einmalig, und längst sind die Passionsspiele eine weltweite Marke. Neben uns sitzt eine Familie, die eigens aus Hawaii angereist ist und - man höre & staune - das Münchner Oktoberfest nicht kennt. Die Aufführung, die einst 8 Stunden dauerte, ist ein Gesamtkunstwerk der ganz besonderen Art. Erwachsene dürfen nur mitmachen, wenn sie seit mindestens zwanzig Jahren in Oberammergau leben. Um so erstaunlicher, dass die Schauspieler:innen, die Sänger:innen, das Orchester und der Chor tatsächlich aus dem Dorf kommen und beileibe nicht wie eine Laienspielschar agieren.
Wir rätseln bei einer deftigen Mahlzeit im Wirtshaus, ob es eine spezielle Oberammergau-DNA gibt; es ist schier nicht nachvollziehbar, dass ein kleines Dorf solch ein kreatives Potenzial besitzt. Immerhin werden die Passionsspiele seit 1680 alle 10 Jahre aufgeführt, immerhin begeistert sich ein ganzer Ort für diese gemeinsame Sache. Viele stellen ihre Job- und Urlaubsplanung darauf ab und sind mächtig stolz, dabei sein zu dürfen. Fast ein Viertel der Einwohner:innen von Oberammergau war heuer bei den über 100 Veranstaltungen aktiv, die fast eine halbe Million Menschen aus aller Welt anzogen. Herausheben aus diesem Gesamtkunstwerk muss man Christian Stückl (61), der als Spielleiter seit 1986 im Amt ist und in seiner Zeit viele Neuerungen durchsetzen konnte. Die Faszination der Passionsspiele in Oberammergau, deren Gewinn bei der Gemeinde bleibt, ist ungebrochen; und wir waren nicht die einzigen, die heuer zum ersten Mal kamen. Liegt es daran, dass unsere Zukunft ungewisser denn je ist? "Erstmals wurde das Passionsspiel 1634 als Einlösung eines Gelübdes nach der überstandenen Pest aufgeführt." (Wikipedia) Die Corona-Warn-App signalisierte nach dem Besuch in Oberammergau eine Begegnung mit erhöhtem Risiko. Schon geht die Rede von einer neuen Herbstwelle.
Erk Walter
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