
© Rolf Hiller
Das Duo Costache riskiert riskiert immer Kopf und Kragen.
Eine lange Doppelschlange vor dem Delphi Filmpalast in Berlin. Das Interesse an “Literatur Live”: Robert Habeck liest aus “Den Bach rauf”. So voll haben wir dieses Kino noch nie erlebt, bis auf den letzten Platz im Rang! Geduldig warten die Menschen, deren Mäntel und Taschen von der Security gecheckt werden müssen. Sie alle wollen wie der Kanzlerkandidat der Grünen “den Mut wiederfinden”. Souverän und schlagfertig führt der Moderator Micky Beisenherz das Gespräch. Habeck gibt sich nachdenklich und selbstkritisch und bewundert die Leistungen der Altkanzlerin Angela Merkel. Widerspruch regt sich im Publikum da nicht, wie es überhaupt keine Zwischenrufe oder gar Störer gibt. Tags zuvor war der viel beschäftigte, aber immer offene Habeck bei einem Gamer auf der Plattform Twitch zu Gast – unbekannte Welten nicht nur für ihn. Man kann dort einem Spieler (“Darf ich Sie Max nennen?”) jeden Tag über Stunden bei seinem E-Sport zuschauen, mit ihm plaudern und an seinem digitalen Leben teilhaben.
Wer macht denn so etwas? geht es mir durch Kopf. Wer hat denn Zeit dafür? Beisenherz und Habeck stellen einvernehmlich fest, dass es längst keine Leitmedien mehr gibt – die Öffentlichkeit zerfällt in viele Welten, zwischen denen es kaum mehr Vermittlung gibt. Um so wichtiger, dass man noch miteinander im Gespräch bleibt, andere Meinungen gelten und stehen lässt, solange der Diskurs nicht die Grundfesten der Demokratie in Frage stellt. Eine existentielle Erfahrung als Politiker machte Habeck vor einem Jahr, als aufgebrachte Bauern ihn und seine Familie am Verlassen der Fähre in Schüttsiel hinderten. “Dennoch”, notiert er, “haben die Stunden auf der Fähre etwas verändert. Dass ich zu Hause nicht mehr zu Hause bin und dass es keinen Rückzugsort mehr gibt, aber vor allem, dass es meine Familie so direkt betrifft, ist unmittelbar geworden. Ich habe irgendwann danach mich – und meine Frau – gefragt, ob ich aufhören sollte. Aber die Antwort – auch die von ihr – war: nein.”
Nach der Lesung bildete sich eine lange Schlange im Saal: viele wollten sich “Den Bach rauf” signieren lassen. Am nächsten Tag stand Robert Habeck neun Stunden vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg. Solch ein Leben muss man wollen und können. Wie die Artist:innen im OVAG Varieté in Bad Nauheim, die ich am Vorabend erlebte. Das Duo Costache etwa riskiert bei jedem Auftritt Kopf und Kragen mit ihrer sogenannten Perche-Artistik, die sie nur ein paar Jahre ausüben können und die womöglich langfristige Folgen hat. Trotzdem machen sie ihr Ding und ziehen das Publikum in Bann. Mit zwei Shows startete der Mastermind des Programms, Andreas Matlé, 2003, heute sind es 50 in einer Spielzeit im stets ausverkauften Dolce-Theater (730 Sitzplätze). Über drei Stunden dauert die Show immer und zieht sich nicht einen Moment. Der Vorverkauf für die nächste Saison läuft schon. Dann ist der verurteilte Sexualstraftäter Donald Trump ein Jahr im Amt als amerikanischer Präsident. Man kann nur hoffen, dass die am längsten bestehende Demokratie der Welt nicht von Oligarchen wie Musk, Zuckerberg & Co. gekapert wird. Wir werden Biden noch sehr vermissen. Good bye Joe!
Erk Walter
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