© Rolf Hiller
Nicht nur im Kino wechseln die Angebote derzeit schnell.
Die Programme wechseln schnell, nicht nur im Kino. Drei Wochen lief "Fabian oder der Gang vor die Hunde", jetzt wird "The Father" mit dem Oscar-Preisträger Anthony Hopkins gezeigt. Vor dem Besuch einer kulturellen Einrichtung empfiehlt sich immer ein Blick auf die Homepage des Veranstalters. Der "Delphi Filmpalast am Zoo" setzt im Moment auf 3G, also geimpft, genesen oder getestet. Zudem muss man eine FFP2-Maske und den Personalausweis mitbringen. So aufwändig ist heute ein Kinobesuch, aber diesen Favoriten für den Deutschen Filmpreis möchten wir uns keinesfalls entgehen lassen. Als wolle der Regisseur Dominik Graf die frühen, hektischen und nervösen 1930er Jahre mit aller Macht heraufbeschwören, beginnt sein Film mit einem Tohuwabohu der Farben, Formen & Stile. Dröhnende Musik saugt das Publikum aus der Gegenwart in eine völlig überdrehte Vergangenheit. Das stehe ich keine drei Stunden durch, schießt es mir durch den Kopf. Aus dem ästhetischen Vielerlei entwickelt sich dann eine stringent erzählte Geschichte um Fabian, Cornelia und Labude, die allesamt suchen - und scheitern.
Die frühen 1930er Jahre eines Erich Kästner sind nicht bloß Staffage, sondern verhandeln auch unsere Gegenwart; darin liegt die Qualität des "Fabian" von Dominik Graf. Das sollte man genauso bei einem Theaterstück vermuten, das in Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstand: "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus. 220 Szenen, 1.000 Figuren - nach Meinung des Autors eigentlich unspielbar. Der besessene Theatermacher Paulus Manker hat das Mammutwerk mit seiner nicht weniger besessenen, begeisterten und erstaunlich kleinen Theatertruppe 2018 in Wien dennoch auf die Bühne gebracht. Nun gastiert dieses Ereignis in der Hauptstadt. Glückliche Zufälle haben es möglich gemacht, dass "Die letzten Tage der Menschheit" in der riesigen Belgienhalle in Spandau gezeigt werden können. Vom Schrecken dieses Krieges, den die Franzosen La Grande Guerre nennen, ist bei Manker allenfalls in Momenten etwas zu spüren. Das mag dem Konzept geschuldet sein. Denn die über siebenstündige Inszenierung verklärt das Grauen zum Event. Während es in Afghanistan um Leben und Tod geht, werden wir mit Häppchen & Getränken versorgt und dürfen beim "Leichenschmaus" in der Pause um 22.30 Uhr zwischen Backhuhn, Medaillons und Ravioli wählen. Ute Büsing, Theaterkritikerin beim Inforadio, bilanziert nüchtern, dass sich "Gedanken in zu viel Getöse verlieren". Die Berliner Zeitung titelt „Perlweinseliges Pickelhaubenvarieté“.
In der beeindruckenden Belgienhalle, die zum Glück weiter für Veranstaltungen genutzt werden kann, galt die 3G-Regel. Anschließend durfte sich das Publikum frei und ohne Maske bewegen. Wenn die Zeichen nicht trügen, setzen aber immer mehr in Politik und Veranstaltungsbranche auf 2G; Tests werden künftig keine Rolle mehr spielen und die Ungeimpften teils vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Der Regierungssprecher Steffen Seibert spricht bereits von einer "Pandemie der Ungeimpften", der stellvertretende hessische Ministerpräsident Tarek Al-Wazir stößt ins gleiche Horn und fordert: "Die Pandemie wird zunehmend zu einer Pandemie der Ungeimpften. Lassen Sie sich impfen." Derweil verkündet Gesundheitsminister Jens Spahn das Ende der Inzidenz als absolutem Maßstab zur Beurteilung der Corona-Lage. Wichtiger wird jetzt der Grad der Hospitalisierung, insbesondere die Auslastung der Intensivstationen. Einen vierten Lockdown schloss der wendige Herr Minister aus, es sei denn, es würden neue Varianten des Virus auftauchen. Gemütlicher werden die Zeiten trotzdem nicht, erst recht nicht für Ungeimpfte. Erich Kästner soll das letzte Wort behalten: "Die ersten Menschen waren nicht die letzten Affen."
Erk Walter
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