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“Im Kino bist Du nie im falschen Film” heißt ein bekannter Claim der Branche. Durchaus kann es aber passieren, dass man den falschen Platz erwischt, wenn nämlich die Sitznachbarin die sog. orale Phase nie richtig überwunden hat. Ein Mann stürzt aus dem Fenster, erst auf einen Schuppen, dann zu Boden. Da die Todesursache unklar ist, muss er obduziert werden. Mit diesem Schlag beginnt “Anatomie eines Falls” von Justine Triet. Das rührt die oral Fixierte nicht im Geringsten, sie knistert und knabbert einfach weiter. Erst gegen Ende des ungemein intensiven Films ist meine Geduld erschöpft: “Können Sie das bitte unterlassen!”, raunze ich. Endlich ist Ruhe, wobei die Egoistin zurückgibt, wir sollten doch zu Hause Fernsehen gucken. Die Kinos sollten überhaupt kein Knabberzeug verkaufen. Das müssen sie aber, weil sie damit mehr Geld verdienen als mit den Tickets.
Mit ihrer “Anatomie eines Falls” gewann Justine Triet in diesem Jahr beim Internationalen Filmfestival in Cannes die Goldene Palme. Die französische Regisseurin lässt sich Zeit mit ihrer Arbeit; “Sibyl -Therapie zwecklos” kam 2019 in die Kinos und erntete gute Kritiken. Die verschlungenen parallelen Handlungen verhindern indes jene Dichte und Konzentration, die “Anatomie eines Falls” auszeichnen. Erzählt wird hier die Geschichte einer Ehe, die in einem Gerichtsprozess aufgerollt wird, weil die Ursache des Fenstersturzes geklärt werden muss. Eine Schriftstellerin, gespielt von der fabelhaften Sandra Hüller, wird angeklagt; und in einem quälend intensiven Verfahren kommen die Freuden und Leiden einer Ehe ans Licht, bei der niemand so recht auf seine Kosten kommt. Diese Dekonstruktion erlebt der 11-jährige Sohn des Paares - seit einem Unfall als Kind ist er erblindet. Mit diesen Wahrheiten über seine Eltern wird Daniel, eindringlich gespielt von Milo Machado Graner, nun weiter leben müssen.
Die Qualität des Filmes, der 150 Minuten bannt, ist seine Vieldeutigkeit; es gibt keine einfachen Antworten, Erklärungen und Lösungen. Wahrheit ist, was die handelnden Personen als Wahrheit anerkennen. Wie im Leben, wie in der Politik sind einfache Lösungen heute weniger denn je zu haben. Es ist ja aller Ehren wert, dass in Deutschland seit 2009 verfassungsrechtlich eine Schuldenbremse gilt, um die Staatsschulden nicht Daniels Generation zu hinterlassen. Dieses Prinzip zum Dogma erhoben wird aber zum Problem, wenn die Zukunft eines Landes auf dem Spiel steht. Eine Staatsverschuldung von 65% (2022) nutzt den nächsten Generationen überhaupt nichts, wenn dadurch die Erneuerung eines Landes auf allen Ebenen verhindert wird. In naher Zukunft werden die Kosten der Klimakatastrophen die Kosten für eine aktive Klimapolitik bei weitem übertreffen. Über die Aussetzung der Schuldenbremse braucht man sich dann keine Gedanken mehr zu machen. Allein die Flutkatastrophe vor zwei Jahren hat mehr als 40 Milliarden Euro gekostet. “Nichthandeln ist viel teurer als Handeln”, sagt einer, der weiß, wovon er spricht. Jörg Asmusen ist Geschäftsführer des Verbands der Deutschen Versicherungswirtschaft.
Erk Walter
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