© Karl Grünkopf
Ein neuer Tag beginnt. Das Bermuda3eck verzeichnet täglich 30.000 Gäste; eine Sperrstunde gibt es in Bochum nicht.
Immer wieder Durchsagen, nicht zu dicht am Gleis zu stehen. Am Freitagnachmittag sind die Bahnsteige in der Shopping-Mall mit Gleisanschluss in Berlin brechend voll. Der Hauptbahnhof ist architektonisch gelungen, funktional aber ist er nicht. Umsteigen ist aufwändig, das Gedränge auf den Bahnsteigen beängstigend, und die Fahrgäste der Ersten Klasse stehen bei schlechtem Wetter im Regen; das Dach wurde aus Kostengründen in diesem Abschnitt nie errichtet. Einweiser der Deutschen Bahn sind beim Einstieg in einen knüppelvollen IC nach Amsterdam behilflich; uns schwant nichts Gutes. Gleichwohl ist die Fahrt nach Bochum sehr entspannt und pünktlich. Dort findet heuer unser kleines, offenes Familientreffen statt. Wir kommen im Zentrum des Orkans unter – das Hotel “Tucholsky” liegt am Anfang des sog. Bermuda3ecks, eines Kneipenviertels mit 30.000 Besucher:nnen pro Tag. Party all Night long, in Bochum gibt es keine Sperrstunde.
Im “Tucholsky” steigen gerne Mitwirkende des nahe gelegenen & berühmten Schauspiels Bochum ab, das 1919 gegründet wurde, zusammen mit den Bochumer Symphonikern. Man wollte damit auch der Arbeiterschaft ein kulturelles Angebot machen, erklärt uns die muntere Stadtführerin. Im 2. Weltkrieg wurde die Innenstadt von Bochum fast vollständig zerstört und danach rasch und gesichtslos wieder aufgebaut. So sehen viele Stadtzentren in Deutschland aus – effizient, funktional, seelenlos. Zum Glück sind die Menschen dort nicht so. Der Straßenbahnfahrer wartet auf uns, als wir heraneilen; die Fahrgäste sind freundlich, hilfsbereit und zugewandt. Am Nachmittag besuchen wir das Bergwerksmuseum und bekommen zumindest einen kleinen Einblick in die harte, gefährliche Arbeit der Kumpel, die bis zu 2.000 Meter in den Berg einfuhren, um Kohle abzubauen. Unter Tage musste man sich vollkommen aufeinander verlassen können. Diese Kultur einer Schicksalsgemeinschaft, die bei jeder Schicht ihr Leben riskiert, hat Bochum bestimmt, dieser herzliche und direkte Ton prägt die Stadt noch immer.
Auf unserem Weg durch die nachgebauten Gänge und Schächte denke ich sofort an das Grubenunglück von Legende 1963. Nach vierzehn Tagen konnten noch elf eingeschlossene Bergleute gerettet werden. Die ganze Nation verfolgte damals diese Aktion. Statt Flötenunterricht lauschten wir alle gebannt einer Live-Reportage im Radio, abends durfte ich bei Nachbarn die Rettung im Fernsehen verfolgen. Nie werde ich die Bilder vergessen, als die Arbeiter in einer Dahlbuschbombe aus über fünfzig Metern Tiefe nach oben gezogen wurden, die Kapsel geöffnet und den Bergmännern sofort eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt wurde, um die Augen zu schützen. Wir fahren aus den sicheren Tiefen des Museums wieder nach oben, treffen uns abends noch in einer Karaoke-Bar im Bermuda3eck und grölen “Griechischer Wein”. Bochumer Welten. Die anregenden Familientage wirken nach. 2025 steht Frankfurt auf dem Programm. Dann wird die Welt eine andere sein und Kamala Harris vielleicht die erste farbige Präsidentin der Vereinigten Staaten. God bless America!
Erk Walter
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