Berlin wird in sieben Jahren nicht klimaneutral sein, aber eine Mehrheit beim Volksentscheid wäre trotzdem ein starkes Signal.
Bertolt Brechts allseits bekannte Sentenz aus der "Dreigroschenoper" ist so aktuell wie eh und je - erst denkt man an sich, dann an die anderen. Wir alle wissen inzwischen, dass sich die globale Erderwärmung nicht mehr aufhalten lässt; wir alle wissen, dass unser Lifestyle zu Lasten des globalen Südens geht. Was wir alle tun können, ist sattsam bekannt: weniger heizen, weniger reisen, weniger Fleisch essen. Das kann jede:r sofort umsetzen und muss es mit sich selber ausmachen, ob er/sie es lässt. Unerträglich wird es, wenn die "Klimaschutzbewegung religiöse Züge" (Tagesspiegel, 19.03.23) annimmt, wenn Gut- und Bessermenschen sich legitimiert fühlen, Kunstwerke zu beschädigen, wenn Menschen ihr Verhalten zum absoluten Maß erheben und alle anderen danach beurteilen. Natürlich beteiligen wir uns am Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral", natürlich wissen wir, dass es damit nicht getan ist.
Ein Leben ohne Widersprüche gibt es nicht. Wir schauen uns die Netflix-Produktion "Im Westen nichts Neues" von Edward Berger nach dem Roman von Erich Maria Remarque im Kino an. Der Film wurde mit 4 Oscars ausgezeichnet und erzählt eindringlich vom Leben und Sterben junger Soldaten im Ersten Weltkrieg - am Ende steht die nüchterne Feststellung, dass sich in diesen vier Jahren der Frontverlauf kaum geändert habe. Im "Grande Guerre" verloren etwa 17 Millionen Menschen ihr Leben. Während des Films denke ich immer wieder an den Krieg in der Ukraine, von dem in den Nachrichten nur noch gelegentlich die Rede ist. Das Leiden und Sterben dort geht weiter, es ist keine "news" mehr. Wir sitzen in bequemen Ledersesseln mit Liegefunktion, viele knabbern Snacks, trinken etwas und goutieren das Grauen. Darf man einen solchen Film so erleben? Weltweit gibt es derzeit über 20 Kriege, von den meisten habe ich noch nie gehört.
"Besser Doppelmoral als gar keine Moral", befand Luisa Neubauer in einem Podcast. Sie ist Klimaaktivistin und Mitglied der Grünen. Mit dieser Einstellung lässt sich noch alles rechtfertigen, etwa der Flug der Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Oscar-Verleihung nach Hollywood. Die Einladung hatte der Regisseur Edward Berger im Namen von Netflix ausgesprochen, und sie habe "gerne angenommen, um das Filmteam bei dieser Preisverleihung zu unterstützen und ihm seine Anerkennung im Namen der Bundesregierung vor Ort auszusprechen". (Der Spiegel. 23.03.23). Die Kulturstaatsministerin hat die Kosten für diese Reise Netflix inzwischen aus privaten Mitteln erstattet. Ob sie selbst auch für die Aufrüstung ihrer Dienstlimousine mit weißen Lederpolstern aufkommt, wenn sich die hartnäckigen Gerüchte in der Hauptstadt bestätigen, steht dahin. In der Nacht auf Sonntag werden wieder die Uhren umgestellt. Zumindest diese Zeitenwende sollte gelingen.
Erk Walter
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