
© Thomas Aurin
Lilith Stangenberg als Antigone am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg.
Nach dem Berliner Theatertreffen 2024 stand für uns fest: wir müssen nach Hamburg fahren und alle fünf Teile von Anthropolis am Deutschen SchauSpielHaus bei einem Marathon-Wochenende erleben. Bei ihrem Solo-Auftritt in “Laios”, dem zweiten Teil des Zyklus, hatte Lina Beckmann alle und jeden begeistert. “Ich kann mich nicht erinnern”, notierte ich, “jemals einen solchen Applaus nach einer Theateraufführung erlebt zu haben. Standing Ovations. Wieder und wieder kommt Lina Beckmann auf die Bühne. Wir alle würdigen die Leistung dieser Ausnahmeschauspielerin, die gewissermaßen die Vorgeschichte von Ödipus erzählt, spielt, lebt, leidet.” Pünktlich kommen wir mit dem ICE in Hamburg an, checken im Hotel ein und eilen gleich weiter in die Kantine des Theaters. Ein langer Abend steht an – gespielt werden der Prolog und Dionysos. Gerne hätten wir dieses Erlebnis tiefenentspannt im Schlaf verarbeitet, aber am Sonnabend geht’s auf der Baustelle gegenüber pünktlich um 7 Uhr weiter.
Passt doch. “Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben. Eine Serie in fünf Folgen” heißt das großartige Projekt. Roland Schimmelpfennig zeichnet für den Text verantwortlich und hat manche Passagen ganz neu geschrieben, die Intendantin Karin Beier inszeniert sparsam, klug und konzentriert auf den Stoff und das phantastische Ensemble. Die Fachzeitschrift Theater Heute wählte das SchauSpielHaus Hamburg zum Theater des Jahres und “Laios” zur besten Inszenierung der Saison. Das Ensemble ist wirklich glänzend besetzt und konnte die Absage von Devid Striesow zwei Stunden vor der Aufführung durch Christoph Jöde souverän ersetzen. Er spielt nicht den Ödipus, er ist an diesem Abend Ödipus wie die fabelhafte Lilith Stangenberg Antigone. Das Publikum verfolgt gebannt ihre Versteinerung, mit der sie die Strafe Kreons schon vorwegnimmt. Die Inszenierung nimmt hier den antiken Stoff bitterernst, setzt sich dann aber wieder herrlich unernst von den hanebüchenen Details ab.
Der letzte Abend endet mit einem Sprechgesang des Chores. “Erkenntnis und Einsicht sind der Anfang allen Glücks. Niemand stelle sich gegen die Götter, Übermut, Anmaßung und falscher Stolz führen zum Sturz in die Tiefe, doch das erkennen wir zu spät im Leben.” Im letzten Herbst saß Bundeskanzler Olaf Scholz an allen drei Tagen im Publikum und könnte an diesem Abend ins Grübeln geraten sein. Dass Donald Trump ins Deutsche SchauSpielHaus kommt, steht nicht zu erwarten. Ihn erinnerte die furchtlose Bischöfin der Episkopalkirche der USA, Mariann Edgar Budde, mit ruhigen, klaren Worten an die Menschlichkeit. „Dem US-Präsidenten ins Gesicht zu sagen”, kommentiert die TAZ, “dass seine Politik menschenverachtend ist, erfordert Mut. Mut, den gerade nur wenige beweisen. Dass Budde mit ihren Worten Trumps Herz bewegen wird, ist zwar unwahrscheinlich. Doch mit ihrer fast schon flehenden Bitte zeigt sie einer ganzen Nation und darüber hinaus, dass es möglich ist, sich den Rechten entgegenzustellen. Auch dann, wenn es mächtige Männer in politischen Ämtern sind.” (23.01.25) Die Mühen der Ebene werden ihm nicht erspart bleiben. Ich möchte den Antiken Marathon noch einmal erleben.
Erk Walter
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