
© Constantin Film
Der packende Film „September 5“ von Tim Fehlbaum stellt Fragen nach der journalistischen Ethik.
Jeden Abend sahen wir in der Tagesschau Berichte vom Vietnamkrieg. Ich erinnere mich noch gut daran, wie amerikanische Hubschrauber über das Mekongdelta fliegen, Schüsse sind zu hören. Das war der erste Krieg, den ich im Fernsehen verfolgt habe. Über dieses Jahr hält der ARD-Jahresrückblick fest: “Die Verabschiedung der Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen sowie der Grundlagenvertrag mit der DDR sind die großen außenpolitischen Erfolge der Regierung Brandt im Wahljahr 1972. Brandt wird ebenso wiedergewählt wie Richard Nixon in den USA. Der Vietnam-Krieg tobt derweil unvermindert weiter, der Nordirland-Konflikt erreicht mit dem ‘Blutigen Sonntag’ einen traurigen Höhepunkt. Für weltweite Bestürzung sorgt das Attentat auf israelische Sportler bei den Olympischen Spielen in München.” Damals schaute ich noch Sportübertragungen und war auch beim sog. Goldenen Sonntag am 3. September dabei, als Leichtathleten aus der Bundesrepublik Deutschland drei Goldmedaillen gewannen.
Die “heiteren Spiele” in München fanden zwei Tage später ihr jähes Ende. Die palästinensische Terrororganisation “Schwarzer September” nahm 11 israelische Sportler als Geisel und forderte die Freigabe von 232 Palästinensern. Die deutsche Polizei war auf eine solche Situation nicht vorbereitet, die Befreiung auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck scheiterte – alle Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist starben. Eine 24/7-Information gab es damals noch nicht, so dass sich die Nachricht von dem Überfall erst allmählich verbreitete, viele Wettbewerbe gingen einfach weiter; manche dann sogar in Kenntnis der Lage. Hätte man die Olympischen Spiele, in Deutschland zumal, abbrechen müssen? Das IOC entschied sich schon damals für das Geschäft und gegen die Moral. „The games must go on,“ verkündete Avery Brundage, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Diese Maxime gilt für das Handeln des IOC heute generell. Wo die Spiele stattfinden, ist egal, welche Belastungen für die Umwelt entstehen, schert niemanden in der mächtigen Funktionärsriege. Hauptsache die Kasse stimmt.
Diese Fragen streift der überragende Film “September 5” des Schweizer Regisseurs Tim Fehlbaum, den wir zum Glück noch in einer Matinee-Vorstellung sehen können, nur am Rande. Mucksmäuschenstill ist es in dem winzigen Kino. Obwohl man doch den Ausgang des Geiseldramas kennt, folgt das Publikum gebannt der Arbeit eines amerikanischen Fernsehteams im Olympischen Dorf. Mit Leonie Benesch, John Magaro und Ben Chaplin ganz hervorragend besetzt, wirft “September 5” Fragen nach der Qualität journalistischer Arbeit auf. Soll man sich Slots beschaffen, um über das Geiseldrama zu berichten? Gibt es Grenzen für das, was man zeigen darf? Auch die Terroristen verfolgten live das Programm. Braucht man zwei verlässliche Quellen, um eine Nachricht herauszugeben? Die Geiselnahme während der Olympischen Spiele 1972 und ihr tragisches Ende verfolgten 900 Millionen Menschen auf der ganzen Welt an den Bildschirmen. Heute kann man auf Social Media in Echtzeit (fast) überall dabei sein; die Frage nach der Verlässlichkeit einer Quelle hat kaum mehr Relevanz. True Social heißt ausgerechnet der Kanal des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.
Erk Walter
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