Seit vier Jahren ist Dr. Susanne Völker Kulturdezernentin der Stadt Kassel, die Pandemie beherrscht unser Leben im dritten Jahr – und gerade die Kultur leidet massiv unter den Folgen von Corona. Doch wie geht es jetzt weiter? Was ist in den letzten Jahren passiert? Wir haben unsere Kulturdezernentin zum Interview eingeladen, um mit ihr über die aktuelle Situation der Kasseler Kultur, die Bewältigung der Pandemie-Folgen und den Blick nach vorn zu sprechen.
Wie schätzen Sie die Situation für die Kasseler Kultur zu Beginn des dritten Pandemie-Jahres ein?
Corona und die Folgen sind eine schwere Belastung für die Kultur. Besonders Einzelkünstlerinnen und -künstler, aber auch kleinere und größere Institutionen durchlaufen schwierige Zeiten. Der vielfach befürchtete „Kahlschlag“ konnte jedoch verhindert und die Vielfalt und Qualität, die Kassels Kultur auszeichnen, über die letzten schwierigen Jahre bewahrt werden. Natürlich wird die Dynamik der Pandemie nach wie vor eine Rolle spielen, denn die Planungsunsicherheiten führen wie auch in Bereichen wie Clubs, Gastronomie und Veranstaltungen auch weiterhin zu zusätzlichen Belastungen bei den Akteurinnen und Akteuren, die bereits unter Einkommensausfällen, fehlendem Austausch und mangelnder Sichtbarkeit zu leiden haben. Die gemeinsamen Anstrengungen der letzten Jahre haben aber bewirkt, dass auch in diesem Jahr wieder viele verschiedene herausragende Kulturangebote möglich sind.
Wie konnten die negativen Folgen der Pandemie für die Kasseler Kultur begrenzt werden?
Viele Schwierigkeiten konnten durch das Abrufen von Fördermitteln vor allem des Bundes, des Landes Hessen, der Stadt Kassel, aber auch von Stiftungen, Verbänden und Weiteren bewältigt werden. Insgesamt war aber die Kultur in Kassel zum Glück schon besser aufgestellt als noch einige Jahre zuvor. Die Basis bildet die substantielle Erhöhung und Ausweitung der Kulturförderung insbesondere für die Freien Szenen in allen Sparten über die letzten Jahre. Auch auf dieser Grundlage konnte die Bewältigung der Pandemiefolgen gemeinsam mit den Kulturschaffenden und den Kulturinstitutionen angegangen werden. Hinzu kommen der Einsatz und die Kreativität des Kulturbereichs sowie eine intensive Beratung zu Förderprogrammen und -möglichkeiten.
Es wurden zudem neue Formate und Kooperationen entwickelt. Als ein Beispiel unter vielen kann hier die Zusammenarbeit von Kulturzelt, Weltmusikfestival des Kulturzentrums Schlachthof, Theaterstübchen und Stadt Kassel für die Nutzung der „Hessenkampfbahn“ für ein vielfältiges Sommerprogramm genannt werden. All das und eine beeindruckende Solidarität untereinander haben dazu beigetragen, die Pandemiefolgen für die Kasseler Kultur zu begrenzen.
Wie genau hat sich denn die Kulturförderung in den vergangenen vier Jahren seit Ihrem Amtsantritt entwickelt?
Die Mittel im Bereich der Kulturförderung innerhalb des städtischen Kulturetats wurden dank der sehr guten Zusammenarbeit zwischen Akteursgruppen, Politik und Verwaltung annähernd verdoppelt. So konnten zahlreiche wichtige Vorhaben und Projekte der „Kulturkonzeption Kassel 2030“ bereits umgesetzt werden. Insbesondere erhielten viele Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen der Freien Szenen substanzielle Fördererhöhungen oder Neuförderungen. Erweiterte und neue Förderinstrumente wie die Ausstellungshonorare für Bildende Künstlerinnen und Künstler oder die Erhöhung der Ressourcen für die Kulturelle Bildung und die Stadtteilarbeit tragen ebenso zu einer grundlegenden Verbesserung bei. Diese Weichenstellungen haben sehr dabei geholfen, mit den Pandemieauswirkungen umzugehen.
Im vergangenen Jahr waren, wenn auch unter weiterhin geltenden Einschränkungen, Kulturerlebnisse wieder möglich. Wie haben Sie diese erneute Öffnung der Kultur erlebt?
Eine große Besonderheit dieser Zeit ist das starke „Wir-Gefühl“. Die beiden Spendenaktionen „Ohne Kultur isses für’n Arsch!“ und „Einkommen schaffen!“ sind dafür zwei prominente Beispiele. Sie haben gezeigt, wie verlässlich das Publikum an der Seite der Kulturakteurinnen und -akteure in dieser wichtigen Phase steht. Auch der Erfahrungsaustausch zwischen den Institutionen und in den Freien Szenen, beispielsweise hinsichtlich notwendiger Maßnahmen, gemeinsamer Öffnungsszenarien, funktionierender Hygienekonzepte und möglicher Zusammenarbeit, hat gegenseitig vieles erleichtert. Es ließen sich neue Kooperationen entwickeln, wie beispielsweise, dass die Bergparkkonzerte im Boreal in der Nordstadt einen temporären Ort fanden.
Besonders waren auch die fast 90 Veranstaltungen im Rahmen von „#KS21 – Kultur im Sommer 2021“, die Museumswochen statt der Museumsnächte, die kulturellen Innenstadtangebote, die dezentralen Initiativen in den Stadtteilen, die Angebote und Maßnahmen im Staatstheater und in den Museen – sie alle sind weitere Belege dafür, wie in kürzester Zeit in einer gemeinsamen Anstrengung Kulturerlebnisse sicher ermöglicht wurden.
Neben der Bewältigung der Pandemie-Folgen umfasst Ihre Arbeit ja noch eine Vielfalt an weiteren Aufgaben. Können Sie uns einen kurzen Überblick davon vermitteln, an welchen Themen in Ihrem Dezernat in den zurückliegenden vier Jahren schwerpunktmäßig gearbeitet wurde und wird?
Es sind sehr viele verschiedene Themen, an denen wir arbeiten. Zentrale Grundlage ist die in 2017 und 2018 gemeinsam mit vielen Kasseler Kulturschaffenden erarbeitete und 2018 von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedete „Kulturkonzeption Kassel 2030“. Dazu gehört beispielsweise, dass wir das Thema Räume offensiv angehen, um Kulturschaffenden eine Arbeitsperspektive in Kassel zu ermöglichen.
Hier haben wir ein Portal für kulturell nutzbare Räume erstellt und Planungen sowohl für ein Zentrum für Kreativwirtschaft als auch für Orte der Kulturproduktion aufgenommen. Das Palais Bellevue wird zum neuen Ort für die Kasseler Musikgeschichte und Literatur. Probenräume sind entstanden, neue Kulturorte werden erschlossen.
Die Ausweitung des Fördertableaus und die Förderung von Vernetzung und Sichtbarkeit sind weitere wichtige Schritte hin zur Stärkung der Kasseler Kultur. Dazu zählen auch die Weiterentwicklung des Technikmuseums hin zu einem Museum für Technikgeschichte und die Stärkung von Institutionen wie der Caricatura, des Dokfilm-Fests, des Tanz*werks und vielen mehr. Die städtischen Museen, die Stadtbibliothek, das Stadtarchiv, die Musikakademie, die Bürgerhäuser – sie alle sind wesentliche Bestandteile des städtischen kulturellen Lebens und entwickeln sich stetig weiter, ebenso wie das Staatstheater. Es wird so schnell nicht langweilig.
Wenn Sie einen Blick nach vorn richten, wie glauben Sie wird sich das Jahr 2022 in kultureller Hinsicht entwickeln?
Für Kassel kann das Jahr 2022 ein kulturell sehr gutes werden, denn es ist schließlich ein documenta-Jahr. Auch die fünfzehnte Ausgabe der documenta gestaltet die internationalen Kunstdiskurse prägend mit und wird im Fokus eines internationalen Kunstpublikums stehen. Daneben lassen die kreativen Kulturformate der Vorjahre auch sonst auf ein vielfältiges Kulturjahr blicken. Dennoch: Die Folgen der Corona-Pandemie sind noch nicht bewältigt und es kommt auf die langfristige Unterstützung und Solidarität auch in den kommenden Jahren an.
Vom 18. Juni bis 25. September 2022 findet die documenta fifteen statt und wird erstmalig von einem Kollektiv geleitet. Was erwarten Sie?
Es wird wieder eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Kunstschau werden. Ruangrupa ist als international vernetztes Künstlerkollektiv sehr nah an den verschiedenen global-zeitgenössischen Diskursen und wie sie sich in der künstlerischen Auseinandersetzung weltweit widerspiegeln und realisieren. Gleichzeitig vermittelt ruangrupa, dass die documenta fifteen eine documenta sein wird, die sich in besonderer Weise auch auf die Stadt Kassel bezieht und ihre Künstlerinnen und Künstler einbindet. Lokal und global zu reflektieren, zu vernetzen und zu gestalten prägt bereits das Vorfeld dieser documenta, ebenso wie die einladende Geste, daran aktiv mitzuwirken.
Gestatten Sie uns noch ein paar persönliche Fragen. Eine Zeitkapsel beamt Sie in jede beliebige Zeitepoche. Welcher politischen Debatte hätten Sie gern beigewohnt?
Wie es Aristoteles gelang, aufbauend auf Platons demokratischen Idealen eine frühe gemeinwohl-orientierte demokratische Realität zu argumentieren – mit all den vielen weiten Wegen, die danach noch gegangen werden mussten und noch immer gegangen werden müssen –, das hätte ich mir gerne mit angehört.
Welche Person aus der Gegenwart würden Sie gerne zum Abendessen treffen?
Ganz ehrlich: Auch ich habe durch Corona so viele Menschen aus meinem Freundeskreis lange nicht gesehen – die kämen vielleicht sogar zuerst. Sehr gerne würde ich mich aber auch mal mit Audrey Azoulay, der derzeitigen Generaldirektorin der UNESCO, unterhalten.
Was bedeutet Glück für Sie?
Das ist eine der ganz großen Fragen. Glück kann sehr vieles sein, aber das eine große Glück ist es vielleicht, wenn langfristig ein Leben lang von all den vielen verschiedenen Dingen, die Glück ausmachen können, immer etwas da und greifbar ist.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit und wünschen uns allen die kulturelle Normalität und Ihnen weiterhin alles Gute für den Weg zur Kulturkonzeption Kassel 2030.