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Welchen Stellenwert hat für Sie das Thema Klimaschutz im aktuellen Bundestagswahlkampf?
Im Vergleich zur Wahl 2021 spielen Klimaschutz und Energiewende gerade leider eine untergeordnete Rolle. Am Ziel der Klimaneutralität halten zwar alle demokratischen Parteien fest, aber mit sehr unterschiedlichem Zeithorizont und Vorschlägen, die nicht immer zielführend sind. Dieses Ausblenden ist schwer verständlich und für mich kaum auszuhalten.
Können Sie uns das erläutern?
Im Pariser Klimaabkommen hat sich die Weltstaatengemeinschaft 2015 verpflichtet, die globale Erderhitzung auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Das war keine symbolische Zahl. Die Naturwissenschaft zeigt uns ganz klar auf, dass das dauerhafte Übersteigen der 1,5-Grad-Marke dazu führen wird, dass Inselstaaten in ihrer Existenz bedroht sind und uns Extremwetterereignisse und Naturkatastrophen auch in unseren Breitengraden immer häufiger ereilen. Leider wurde seit 2015 viel zu wenig unternommen, und so haben wir bereits 2024 global die 1,5 Grad erreicht. Die Folgen sind verheerend. Um die Erderhitzung umgehend aufzuhalten, müssen wir die Treibhausgasemissionen schnellstmöglich auf null bringen.
Wie kann das gehen?
Wir brauchen eine Transformation unseres Energiesektors. Hier entstehen 75 Prozent der Emissionen, die die Erderhitzung verantworten. Das heißt: Wir müssen weg von fossilen Brennstoffen wie Öl, Gas und Kohle und unsere Energie regenerativ gewinnen. Erneuerbare Energien wie Windkraft und Photovoltaik erzeugen Strom klimaneutral – ganz ohne CO2 in die Atmosphäre zu jagen.
Was sind darüber hinaus die Vorteile von Erneuerbaren Energien?
Die Erneuerbaren machen uns unabhängig von teuren fossilen Brennstoffimporten aus autokratischen Staaten. Eine dezentrale regenerative Energieversorgung lässt die Menschen durch eigene Erzeugungsanlagen oder Beteiligungen an Wind- und Photovoltaikparks profitieren. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung der Energieversorgung. Profitierten früher nur wenige, so profitieren jetzt viele. Außerdem ist der Bereich der Erneuerbaren ein wichtiger Job- und Wirtschaftsmotor.
Einige Parteien fordern die Rückkehr zur Atomkraft, weil die auch CO2 -neutral ist.
Sehr erstaunlich finde ich diesen Traum von einer Renaissance der Atomkraft, der sich in unterschiedlicher Ausgestaltung in den Wahlprogrammen von CDU/CSU, FDP und AfD nachlesen lässt. Die Erneuerbaren Energien haben letztes Jahr weit mehr als die Hälfte unseres Stroms produziert, viel mehr als Atomkraftwerke je beigesteuert haben. Das extreme Sicherheitsrisiko sollte uns spätestens seit den Unfällen in Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima bekannt sein. Die Kosten eines solchen Unfalls trägt immer die Allgemeinheit. Dabei verursacht ein Super-Gau Schäden von bis zu 430 Milliarden Euro – das entspricht dem gesamten deutschen Bundeshaushalt. Ignoriert wird dabei auch die noch immer ungeklärte Frage nach der Endlagerung des Atommülls, den niemand im eigenen Umfeld haben möchte.
Eine häufig angeführte Kritik an Windkraft lautet, dass durch den Bau von Windkraftanlagen die Natur zerstört wird. Was sagen Sie dazu?
Zunächst sollten wir festhalten, dass die Windenergie mit dem größten Anteil der regenerativen Stromerzeugung das Rückgrat der klimaschonenden Energieversorgung in Deutschland darstellt. Ohne sie wird es keine erfolgreiche Energiewende geben. Dabei kommt es auch zu Eingriffen in die Natur. Aber der Bau von Windkraftanlagen ist nicht einfach überall möglich und genehmigt. Hier erleben wir in Teilen der Diskussion eine komplett faktenfreie Argumentation, die nur darauf abzielt, Angst zu schüren. Das beste Beispiel dafür ist die kürzlich geäußerte Behauptung der AfD-Kanzlerkandidatin, der Reinhardswald solle für einen Windpark abgeholzt und so auch der Urwald Sababurg vernichtet werden. Das ist absoluter Unsinn. Der Märchenwald wird nicht abgeholzt! Der Windpark wird in einem anderen Teil des Reinhardswaldes gebaut – dort, wo ein angepflanzter Fichtenforst wächst, der infolge von Dürre, Stürmen und Borkenkäferbefall bereits zu großen Teilen abgestorben und gerodet ist. In Schutzgebieten wie dem Urwald werden keine Anlagen gebaut. Bei solchen Behauptungen geht es nicht um kleine Ungenauigkeiten, es geht um gefährliche Unwahrheiten, die Verunsicherung schüren und den Zubau von Windenergieanlagen verhindern sollen.
Was bedeutet die Energiewende für Nordhessen?
Die regionale Energiewende ist unser Beitrag, einer globalen Herausforderung zu begegnen. Nordhessen will bereits bis 2040 die Bereiche Mobilität, Strom und Wärme zu 100 Prozent aus klimaneutralen Quellen wie Wind und Sonne, Biomasse und Wasser versorgen. Unsere Region verfügt über besonderes Know-how in den Bereichen dezentrale Energietechnik und Energieeffizienz und kann zu einer Pionierregion bei der Energiewende werden. Die Energiewende ist auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor: Die Uni Kassel hat berechnet, dass die Erneuerbaren Energien seit 2018 in Nordhessen jährlich mindestens 200 Millionen Euro an regionaler Wertschöpfung erzielen. Hier profitieren vor allem Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen, die Entwicklung, Bau, Betrieb und Wartung von Erneuerbare-Energie-Anlagen bieten.
Warum heißt es dann aber immer wieder, dass Klimaschutz die wirtschaftliche Entwicklung ausbremsen würde, weil Klimaschutz zu teuer ist?
Wir haben leider keine Kostentransparenz bei den Strompreisen. Während die Förderung der Erneuerbaren alljährlich auf der Stromrechnung deutlich sichtbar aufgezeigt wird, sind die Subventionen für die fossilen Energieträger in öffentlichen Haushalten versteckt. Dabei zeigen alle seriösen Studien, dass allein bei den realen Subventionen die Förderung für die Fossilen die Förderung der Erneuerbaren um ein Vielfaches übersteigt. Viel Schlimmer ist aber, dass die externen Effekte, also die Kosten für Klima, Umwelt, Gesundheit und anderes noch nicht einmal mit eingerechnet sind. So zu tun, als wäre die dringend nötige Energiewende eine wirtschaftliche Gefahr für unser Land, ist absoluter Quatsch.
Können Sie das weiter ausführen?
Was hierbei oft unerwähnt bleibt, sind die finanziellen Folgen der klimabedingten Wetterereignisse. Da müssen wir nicht auf die Brände in Kalifornien blicken oder auf die Flut im Ahrtal: Hier bei uns in Kassel hat im Juni 2023 eine halbe Stunde Starkregen und Hagel zu Millionenschäden geführt. Solche Ereignisse sind in den vergangenen Jahren immer häufiger geworden – und sie sind die Folge der Erderhitzung. Klar ist: Nichts ist so teuer, wie nichts für den Klimaschutz zu tun.
Wo steht die regionale Energiewende, und wie muss es weitergehen?
Wir decken heute schon mehr als die Hälfte unseres Stromverbrauchs aus regional erzeugten Erneuerbaren Energien. Das ist ein Erfolg. Der Verbrauch wird aber durch die Elektrifizierung der Bereiche Wärme und Mobilität noch stark ansteigen. Um die fossilen Energieträger vollständig zu ersetzen und langfristig für saubere und günstige Energie zu sorgen, brauchen wir beim Zubau von Windkraft und Photovoltaik deutlich mehr Tempo. Mit dem Barometer der Energiewende für Nordhessen beobachten wir als cdw Stiftung gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut IEE sowie der Uni Kassel die Entwicklung seit dem Jahr 2000 und zeigen, welcher Zubau bis 2045 notwendig ist, um den steigenden Strombedarf aus regenerativen Quellen decken zu können. Mit einer Web-App machen wir die Zahlen transparent.
Das heißt?
Nutzerinnen und Nutzer können sich dort über den Stand in jedem der fünf nordhessischen Landkreise und der Stadt Kassel informieren und sich selbst ein Bild machen. Aus unserer Sicht bietet das Energiewende-Barometer eine unverzichtbare Orientierung auf dem Weg zur Klimaneutralität. Klar ist: Nordhessen könnte laut der dazugehörigen Studie schon 2029 ausreichend Strom aus Wind, Sonne & Co. produzieren, um den eigenen Strombedarf zu 100 Prozent zu decken. Das sollte Antrieb für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sein.

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ENERGY IN IDEAS: DIE CDW STIFTUNG
Die cdw Stiftung wurde 2011 von den Gründern und Hauptaktionären der SMA Solar Technology AG ins Leben gerufen. Mit dem Anspruch energy in ideas engagiert sich die Stiftung in ihren beiden Tätigkeitsfeldern Energie und Kultur. Im Bereich Energie treibt sie in Nordhessen gemeinsam mit ihren Partner*innen die Umsetzung der Energiewende voran und unterstützt die Region dabei, ihre Klimaschutzziele zu erreichen: eine 100-prozentige Versorgung durch Erneuerbare Energien in den Bereichen Strom, Wärme und Mobilität bis 2040. ›› www.cdw-stiftung.de
DIE REGIONALE ENERGIEWENDE IM FOKUS
Zwei von der cdw Stiftung initiierte Online-Angebote beleuchten den Stand und die Zukunft der Energiewende in Nordhessen. *Auswertung des Marktstammdatenregisters: Das Tool bietet wöchentlich einen kontinuierlichen Blick auf den Ausbaustand der Erneuerbaren Energien in den fünf nordhessischen Landkreisen und in der Stadt Kassel. *Barometer der Energiewende für Nordhessen: Das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE bewertet jährlich umfassend den Stand der Energiewende. In regionalisierten Szenarien für jeden Landkreis und die Stadt Kassel prognostizieren die Forscher*innen darüber hinaus den zukünftigen Strombedarf und den dafür erforderlichen Zubau bis 2045. ›› www.energiewende-nordhessen.de