© Fotos: Matthias Helmrich | www.meerpixel.de
Rund 150 Exponate auf einer Fläche von über 260 qm präsentiert die Künstlerin Oksana Kyzymchuk in ihrer neuen Ausstellung „Rote Treppe“. Die Werke hat sie in den letzten vier Jahren erarbeitet und es ist ihre bisher größte Einzelausstellung. Wer auf die gebürtige Ukrainerin trifft, ist sofort gefangen und fasziniert: von ihrer Gastlichkeit, ihrem Charme und der schier unendlichen kreativen Kraft. Neben der Malerei fotografiert Oksana Kyzymchuk, fertigt Skulpturen an und singt. Sie produziert Schmuck und filmt.
Eine absolute Powerfrau also: Grund genug für uns, das künstlerische Ausnahmetalent zum Interview einzuladen und mit ihr über ihre aktuelle Ausstellung, ihre Inspiration und die Zukunft zu sprechen. Sie hat uns gleich das Du angeboten, das wir sehr gern angenommen haben.
Büroräume als temporäre Galerie? Wie ist diese Idee entstanden? Wie kam es zum Ausstellungsnamen „Rote Treppe“?
Oksana Kyzymchuk: Mit Erich Kersting und mit seinem Sohn Erik Kersting pflege ich schon einen längeren freundschaftlichen Kontakt. Sie besuchten häufiger meine Vernissagen und sind sehr kunstinteressiert. Ich bin sehr dankbar, dass sie mir diese großen Räume kostenlos zur Verfügung gestellt hatten und mich täglich besuchen, wenn ich in der Galerie die Aufsichten habe. Es ist eine tolle Option und gute Möglichkeit für mich als Künstlerin, die frei stehenden Räume als temporäre Galerie zu nutzen und meine Werke den Menschen zu präsentieren. Erik Kersting hat die Treppe mit dem roten hochwertigen Stoff im Raum erneuert, die thematisch die Brücke zu meiner Kunst baut, wenn man den Raum betritt. So sind unsere Projekte künstlerisch und handwerklich verbunden.
Was ist das Besondere an deiner aktuellen Ausstellung? Wie entsteht eine solche Ausstellung?
Oksana Kyzymchuk: Wir hatten Anfang März eine Woche lang mit dem Künstler Zaki Al Maboren am Friedrichsplatz ausgestellt. Es ging darum, die frei stehenden Räume zu beleben, dem Publikum die Möglichkeit zu bieten, persönlich mit uns ins Gespräch zu kommen. Wir hatten nur eine Woche Vorbereitungszeit und diese spontane Aktion war sehr erfolgreich. Ich denke, man muss heutzutage als Künstler flexibel sein und schnell zwischen dem künstlerischen Schaffen, dem körperlichen Einsatz und der direkten Kommunikation wechseln können. Von uns wird heute viel erwartet und verlangt, vor allem Anpassungsfähigkeit. Ich würde lieber im Atelier arbeiten, als die organisatorischen Dinge zu klären. Es gehört aber dazu: die Wechselwirkung – das Entstehen der Kunst und der Austausch mit dem Publikum. Eine Ausstellung verbinde ich weniger mit einem speziellen Thema, sondern jedes Werk ist schon ein Thema an sich.
Wenn du in die Vergangenheit blickst, bist du überrascht, was du schon alles erlebt und auf die Beine gestellt hast?
Oksana Kyzymchuk: Ja, ich habe viele Phasen in meiner künstlerischer Entwicklung erlebt und die Zeiten waren nicht immer einfach, weil ich keine Unterstützung von außen hatte. Ein Spagat zwischen den beiden Studien und mehreren Jobs, die ich annehmen musste, um mir meinen künstlerischen Aufstieg zu ermöglichen. Ich habe es zu schätzen gelernt und es fällt mir weiterhin nicht leicht, mir die Ruhepausen zu gönnen. Ich verließ mich immer auf das Gefühl, was mir gut getan hat. Ich folgte der Intuition und motivierte mich täglich, dass es irgendwann besser sein wird. Viele Freunde habe ich auf dem Weg getroffen, zu denen ich tiefe Verbundenheit verspüre. Die haben an mich geglaubt, mich aufgemuntert und Kraft gegeben. Es war und ist mein größtes Glück. Ich bin weiterhin überrascht, wie viel Wunder das Leben verbirgt, was alles möglich ist, wenn man nicht aufgibt und bei der Sache bleibt. Die Disziplin ist die Königin des Erfolgs.
Worauf bist du besonders stolz?
Oksana Kyzymchuk: Stolz zu sein. Alles ist relativ und es ist noch kein Ende. Ich denke, dass ich mir selber treu bleibe und niemals aufgebe.
Was inspiriert dich? Wie wählst du deine Themen aus? Wie ist das bei den Materialen?
Oksana Kyzymchuk: Es ist wieder eine sehr intuitive Angelegenheit. Inspiration hole ich mir aus meinem Alltag, aus der Vergangenheit, aus meiner Umgebung. Die Strukturen, die neuen Materialen wecken in mir einen Reiz zum Experimentieren, zum Tasten, den Dingen genauer auf die Spur zu kommen und daraus was Eigenes zu erschaffen. Die Themen sind schon in mir, wie sie in jedem von uns vorhanden sind. Jeder Mensch ist ein Wunder an sich und meine Aufgabe ist es, dieses Wunder zu entbergen. Man muss nur loslassen, wieder ein Kind werden, die Freude an dem Prozess erspüren und sich befreien. Und dann tanzt die Linie, die Farben fließen übereinander und alles entsteht in einem neuen überraschenden Arrangement. Es geht um die Entwicklungskette, das Aufnehmen, das Erlernen, aber dann ganz persönlich zu werden, indem man was Eigenes kreiert.
Wie dürfen wir uns deine tägliche Arbeit vorstellen? Was passiert im kreativen Schaffensprozess?
Oksana Kyzymchuk: Meine alltägliche Umgebung ist ganz gewöhnlich. Ich brauche viel Rückzug, viel Alleinsein. Ich liebe je nach Jahreszeit die Stunden mit der Kerze, mit der klassischen Musik, Jazz, in der absoluter Stille, in der ich meine Gedanken abhören kann. Ich mache es einfach. Der Überraschungseffekt für mich selber ist ganz wichtig. Wer soll schon über die von mir erschaffenen Werke staunen, wenn ich selber davon nicht überzeugt bin?! Im Moment bin ich glücklich und sehe es als großes Privileg, meine Kunst ausüben zu dürfen. Ich kann ohne Pause, im Fluss 24 Stunden am Tag schöpferisch tätig sein, ohne Energie zu verlieren. Es ist für mich ein Zeichen, dass es mein wahrer Lebensweg ist.
Noch ein paar persönliche Fragen bitte. Mit welcher Persönlichkeit aus der Vergangenheit oder Gegenwart würdest du dich gern zum Essen treffen? Worum würden sich eure Gespräche drehen?
Oksana Kyzymchuk: Es gibt und gab so viele großartige Menschen in meinem Leben, von denen ich einen Teil in mir trage. Wir sind für immer verbunden, indem man immer gedanklich, assotiativ zurückreist und die schönen Erinnerungen pflegt. Diese Menschen kann man noch immer aufsuchen. Aber ob die Begegnungen denen vor etlichen Jahren gleich sein würden? Das bezweifle ich. Zu meinen Abendessen würde ich aber meine Vorfahren einladen, die schon nicht mehr am Leben sind. Ich würde nur zuhören wollen und Fragen stellen. Man begreift mehr von sich selbst, wenn man aufmerksamer, neugieriger, aufnahmefähiger ist. Es sind immer Projektionen und uns alle verbindet wesentlich mehr als uns trennt. Ich bedauere, dass ich z. B. nicht aufmerksam genug war, um meine Großmutter richtig kennenzulernen, und ich entdeckte sie erst nach dem Tod durch ihre Handarbeit, die sich auf der Wand als Teppich manifestiert. Die lebendigen Menschen kann man immer aufsuchen, die Toten aber nicht.
Hast du Vorbilder?
Oksana Kyzymchuk: Oh, ja, ich habe viele Vorbilder. Von vielen Menschen kann ich viel lernen, woran es mir mangelt. Es müssen nicht unbedingt berühmte Menschen sein. In jeder Lebensphase haben wir die Lehrer, die Begleiter, die uns ein Stück weiter voranbringen. Man wächst zusammen, und wie traurig es auch sein mag, es trennen sich dann unsere Wege wieder und es tauchen dann neue Persönlichkeiten hinter der Kulisse wieder auf. Und so bis zum Ende, solange der Mensch wachsen möchte. Solange das Wachstumspotenzial nicht erschöpft ist. Ich freue mich über die Menschen in meiner Umgebung, die mir in bestimmten Bereichen helfen und unter die Arme greifen. So kann ich ein Stück weiter wachsen.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Oksana Kyzymchuk: Das frage ich mich häufiger. Ich stelle immer mehr fest, dass die Entscheidung, frei in der Kunst leben zu können, mich glücklich macht. Seit ich denken kann, sah ich mich als Künstlerin. Kinder sind wesentlich näher zu Gott als Erwachsene. Ja, ich lebe mein Leben und lasse mich von mir selbst überraschen, was mir die göttliche Energie morgen schenkt. Und es wird noch viel passieren.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Deine Zeit und wünschen dir zahlreiche Besucher deiner Ausstellung und viele inspirierende Begegnungen.
>> www.oksana-kyzymchuk.de, Friedrichsplatz 6, Kassel, 2. Etage, Eingang durch „Eislust“, Öffnungszeiten: Freitag – Sonntag von 16:00 Uhr bis 20:00 Uhr und nach persönlicher Absprache