© Fotos: Andrea Scheffer und Jens Kohlen
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Weltweit leiden insbesondere selbstständige Menschen aus der Kulturszene unter den Corona-Beschränkungen und es könnte noch schlimmer werden. Die sechstgrößte Branche Deutschlands versucht, sich Mut zu machen und sich gegenseitig zu helfen. Bundesweite Initiativen wie #AlarmstufeRot oder #ohneunsiststille machen auf die prekäre Lage und auf die Stille in der Veranstaltungsbranche aufmerksam. Aus der Aktion #ohneunsiststille ist auch in Kassel eine Initiative entstanden: Kulturgesichter 0561. Kulturgesichter 0561 zeigt euch die Kulturschaffenden der Region Kassel, die ihren Job im Moment nicht oder nur teilweise ausüben können. Ziel ist es, noch mehr Gehör zu finden und angemessene Unterstützung zu erhalten. Derzeit werden eine Vielzahl an Kultur- und Kreativschaffende fotografiert und die Bilder in den sozialen Netzwerken verbreitet. Wir haben das Initiatorenteam Steve Turn und Calvin Reki zum Interview eingeladen – sie haben den Fotografen Jens Kohlen mitgebracht, der die Aktion von Anfang an unterstützt.
Aktuell befinden wir uns im zweiten Lockdown. Ihr seid aus dem ersten gar nicht herausgekommen: Wie habt ihr die letzten Monate erlebt?
Steve Turn: Wir leben in einem Hamsterrad, irgendwie gehts weiter, ohne dass wirklich ein Ende zu sehen ist. Die Ungewissheit ist schon ziemlich stier.
Jens Kohlen: Ich kann da nur für mich sprechen und festhalten, dass der Lockdown auf mein Tagesgeschäft als freier Fotograf keinerlei Einfluss hatte. Jedenfalls keinen negativen. Im Gegenteil. Da ich hauptsächlich online in Amerika verkaufe, hatte ich sogar ein ganz gutes Jahr. Abgesehen davon, haben meine Models auch mehr Zeit für Shootingtermine und ich bekomme ganz gute Locations wie Bars oder Clubs zum Shooten.
Womit beschäftigt ihr euch zurzeit?
Steve Turn: Malen und Basteln von Weihnachtsgeschenken sowie der Oma helfen. Das stimmt natürlich nicht ganz, da wir nur der Oma helfen. Aktuell sind wir mit dem Projekt KULTURGESICHTER 0561 mega beschäftigt, es sind nun doch mehr Gesichter interessiert als erwartet. Shooting-Termine setzen, Location klären, Anfragen bearbeiten, hegen und pflegen der Netzwerke, dies alles sind schon ziemliche Zeitfresser. Nebenbei: Gerade in unserem Fall müssen wir schauen, wie es mit dem Club weitergeht.
Jens Kohlen: Ich plane aktuell einen weiteren Bildband, sitze an meinem dritten Roman und hatte recht viele Shootings in den letzten Wochen. Außerdem bin ich natürlich sehr viel für die Aktion mit den Kulturgesichtern unterwegs und koordiniere die Termine mit den anderen Fotografen.
Habt ihr Jens gefunden oder er euch?
Steve Turn: Mit Jens arbeiten wir schon lang zusammen, er hat für uns und unsere Vorhaben
genau den Flow und Coolness, die wir benötigen. Gefunden haben wir uns vor Ewigkeiten, hmm … wie eigentlich … das weiß ich gar nicht mehr.Hatte allerdings bestimmt einen schrägen Hintergrund.
Jens Kohlen: Wir arbeiten ja ganz gerne mal zusammen. Wie auch schon für die „Kassel ist stabil“-Aktion im Frühjahr. Wir kennen uns eigentlich aus dem Nachtleben und unser gemeinsames Interesse an elektronischer Musik. Ich hatte den „Kleinen Onkel“ auch schon mal als Location für meine let me see you stripped-Partys ausgewählt.
Kasseler Kulturschaffende können sich regelmäßig über die aktuell bestehenden Förderprogramme, Förderbedingungen und Antragsfristen übersichtlich und verlässlich informieren. Darüber hinaus berät die Abteilung Kulturförderung und -beratung im Kulturamt Kultur- und Kreativschaffende bei der Auswahl infrage kommender Förderprogramme sowie bei der Antragsstellung selbst. Habt ihr das Rettungs- und Zukunftsprogramm NEUSTART KULTUR in Anspruch genommen?
Jens Kohlen: Ich habe aufgrund einiger Altlasten aus meiner Insolvenz 2016 auf die Anträge verzichtet und schlage mich alleine durch.
Calvin Reki: Leider ist es nicht ganz so einfach, wie es dargestellt wird. Zwar gibt es Kontakt und Gespräche, allerdings mahlen die Mühlen langsam.
Fühlt ihr euch ausreichend unterstützt?
Steve Turn: NEIN. Sämtliche Versuche in Richtung Rathaus wurden klassisch ignoriert. Mit unserer Aktion *Save the Szene* haben wir einiges bewegt, um auf die Situation der Club- & Kulturszene hinzuweisen. Wir sind zweimal mit Pauken und Trompeten auf die Straße gegangen, haben im Nachgang um Gespräche gebeten – allerdings kam am Ende nichts bei raus. Aus Rücksicht auf die aktuellen Lage werden wir vorerst keine Demo durchführen. Damit es jetzt nicht peinlich fürs Rathaus wird, lassen wir jetzt das Schweigen sprechen.
Was macht euch wütend?
Steve Turn: Wütend? Nichts! Es ist, wie es ist.
Es ärgert uns etwas, dass diese ganze Situation so extrem unkalkulierbar ist und an allen Ecken und Kanten mit zweierlei Maß gemessen wird. Und
es niemanden wirklich interessiert, was dies für uns alle bedeutet. Es wird ein Berufsverbot ausgesprochen, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen und würdig zu helfen.
Was macht euch Mut?
Calvin Reki: Die Menschen. Es gibt immer ein danach.
Was empfindet ihr, wenn ihr von illegalen Partys lest?
Jens Kohlen: Ich denke, es sind nicht nur illegale Partys, die Probleme machen. Letztendlich kenne ich wahnsinnig viele Leute, die sich vermehrt privat zum Kochen und Quatschen
treffen. Der Mensch ist eben ein soziales Wesen. Verordnungen hin oder her. Ich selbst gehe eh nicht so oft vor die Tür und lebe lieber in meinem eigenen Mikrokosmos. Zu viele Menschen
strengen mich an.
Steve Turn: Verständnis und Bedenken zugleich. Einerseits ist der Mensch ein Gesellschaftswesen, auf der anderen Seite ist er auch genau deswegen in der Pflicht, sein Umfeld zu schützen. Mega schwieriges Thema, da mag ich gar nicht mehr drauf eingehen.
Inzwischen fotografiert ein ganzes Team die Kulturgesichter 0561. Was bedeutet das für euch?
Steve Turn: Das ist toll, ein schönes Gefühl zu sehen, wie sehr es angenommen wird. Es ergeben sich viele neue Kontakte und es bildet sich doch schon so eine kleine neue Gemeinschaft, die ständig wächst. Diesen Schwung nehmen wir mit ins Jahr 2021 und werden das Projekt weiter ausbauen und ordentlich Lärm machen. Da kommt noch einiges …
Jens Kohlen: Ich finde es ganz wunderbar, denn jeder hat seinen eigenen Stil. Ich beispielsweise fotografiere nicht gerne in Studios und mag auch keine zusätzliche Lichttechnik in der Fotografie. Aber dass wir die Möglichkeit haben, im Studio von Andrea Scheffer zu fotografieren, die ganz wunderbare Bilder macht, nimmt natürlich sehr viel Druck raus, was die Termine betrifft. So können wir in wenigen Stunden sehr viele Leute fotografieren. Ich mache meist individuelle Termine – outdoor oder on location, was natürlich sehr zeitaufwendig ist.
Was wünscht ihr euch für 2021?
Jens Kohlen: Ich würde gerne noch ein mal tanzen gehen, da ich ja nun auch ein biblisches Alter erreicht habe und langsam negativ auffalle in Clubs.
Steve Turn: Einen dicken Resetbutton, den man drücken darf. Ok, diesen wird es wohl nicht geben. Daher wünschen wir uns natürlich in erster Linie mehr Unterstützung seitens der Stadt für Betroffene der Coronakrise gerade in der Kulturszene. Ein runder Tisch zum Beispiel wäre ein Anfang.