Fotos: © Thomas Müller
Das Rock-Musical „Next to Normal“ feierte 2009 am Broadway seine fulminante Premiere und kassierte zahlreiche Preise: unter anderem drei Tony Awards und den Pulitzer-Preis. Am Staatstheater Kassel konnte diese Produktion in der Spielzeit 2020/21 coronabedingt nicht realisiert werden und kam nun endlich im Oktober zu ihrer feierlichen Premiere. Wir haben drei der Darsteller zum Interview eingeladen: Aisata Blackman (als Diana Goodman), Judith Caspari (als Natalie Goodman) und Philipp Büttner (als Gabriel „Gabe“ Goodman). Und mit ihnen über die Relevanz des Stücks, bipolaren Störungen und Glück gesprochen.
„Next to normal“ erzählt die Geschichte einer „fast normalen“ vierköpfigen Familie – scheinbar durchschnittlich, gewöhnlich und konventionell. Erst bei näherer Betrachtung wird sichtbar, welche Auswirkungen die psychische Krankheit der Mutter Diana Goodman auf das Familienleben hat. Sie leidet an einer bipolaren Störung. Aisata, wie bereitet man sich auf eine so komplexe Rolle vor?
Als ich ein Kind war, hatte ich ein Familienmitglied, das an einer bipolaren Störung litt, „manische Depression“ wurde es damals genannt. Ich kannte diese Person als jemanden, der lustig, freundlich, spielerisch und immer voller Energie war. Als ich ein Teenager war, lernte ich aber durch Geschichten, dass diese Medaille auch eine andere Seite hatte, eine Seite, die ich selbst nie gesehen oder mit dieser Person nie selbst erlebt habe. Aber diese Geschichten gaben mir einen Einblick in die Hoch- und Tiefphasen dieser Störung. Die Kämpfe, die eine Person mit bipolarer Störung haben könnte, wenn sie medikamentös behandelt wird (was sie in Dianas Fall in dem Lied „Mir Fehlen die Berge“ beschreibt), wobei ich mir natürlich nur vorstellen kann, wie schwer es sein könnte, die High-Phase trotz der möglichen Gefahren der Kehrseite der Low-Phase loszulassen, und zuletzt sah ich den Schmerz, den sie den Menschen verursachte, die dieses Familienmitglied liebten und sich um sie kümmerten. Als ich das Drehbuch las (das sehr gut geschrieben ist), konnte ich das nachvollziehen. Als ich mich auf die Rolle vorbereitete, behielt ich all das im Hinterkopf. Und ich habe versucht, eine ehrliche und menschliche Geschichte zu erzählen. Mich in Dianas Haut zu versetzen und mich von ihrer Geschichte leiten zu lassen.
In der Rolle schlitzt du dir die Pulsadern auf. Das ist schon harte Kost?
Ja, das ist definitiv harte Kost. Das habe ich beim Lesen des Buches auch schon gespürt. Aber in dieser Version bekommt man es nicht bildlich zu sehen. Man bekommt es nur über den Text mit. Das Publikum braucht sich also nicht davor zu fürchten, ein hartes Bild zu sehen zu bekommen.
Judith, du spielst die Tochter Natalie, die als Musterschülerin die Anerkennung, die sie zu Hause vermisst, sucht und doch in die Drogen- und Medikamentenabhängigkeit abrutscht. Was war die größte Herausforderung? Wie bewältigt man einen solchen Spagat?
Die Rolle der Nathalie war eine große emotionale Aufgabe. Ich kann mich noch gut an meine eigene Jugend erinnern, in der ich mich ebenfalls oft unsichtbar gefühlt habe, und kann deshalb die Wut, die Nathalie wohl in sich trägt, sehr gut nachempfinden. All diese Emotionen der Vergangenheit waren insbesondere während der Endproben, als wir das Musical jeden Tag im kompletten Bogen geprobt haben, deutlich zu spüren. Doch im Gegensatz zu meinem 16-jährigen Ich lässt Nathalie ihren Frust offen heraus und schafft es letztendlich dadurch zu realisieren, dass sie gesehen und geliebt wird. Diese Bewunderung für ihre Ehrlichkeit und Stärke trägt mich durch jede Vorstellung und ist so unfassbar ermutigend für uns alle.
Nichts ist mehr wie vor zwei Jahren und euer Regisseur Philipp Rosendahl hat „Next to Normal“ als Stück der Stunde bezeichnet. Welche Relevanz hat das Stück für die aktuelle Zeit?
Ich stimme dieser Ansicht sehr zu, da das Leben nach zwei Jahren Pandemie und Isolation eigentlich ein komplett anderes ist. Ähnlich wie in unserem Bühnenbild, in dem wir im ersten Akt allein in Waben spielen, miteinander ein Musical auf die Bühne bringen und uns dabei aber nur eingeschränkt hören und sehen können – das erinnert mich sehr an diese Zeit der Isolation. Unser jetziges Leben nach der Pandemie besteht meines Empfindens nach oft daraus, die alte Normalität des Lebens vor der Pandemie wieder herstellen zu wollen, jedoch vergessen wir, wie die Zeit uns tatsächlich verändert hat. Genau dieser gescheiterte Versuch des Aufrechterhaltens der alten Normalität, die es in Wirklichkeit gar nicht mehr geben kann, ist auch in ‚Next to Normal‘ das grundlegende Problem der Familie Goodman.
Philipp, wie empfindest du deine Rolle? Bist du der Superboy oder doch der unfreiwillige und stille Betrachter am Rand, der ab und zu einfach mal ausflippen muss?
Ich erlebe Gabriel als sehr laut und um jede Aufmerksamkeit kämpfend, die er bekommen kann. Denn er kämpft aus seiner Sicht um die Liebe und Nähe zu seiner Mutter und seiner Familie. Er will Teil der Familie sein, in der es aber keinen Platz für ihn geben kann, und je mehr er einen Platz in der Familie in Anspruch nimmt, umso mehr zerstört er diese von innen heraus. Doch das kann er nicht sehen. Ich erlebe ihn generell als sehr narzisstisch, denn er hat weder Empathie für seine Eltern und seine Schwester, noch kann er sehen und verstehen, was er da anrichtet. Er sieht nur seine eigenen Ziele und verfolgt diese mit größter Härte, egal was es kostet. Aber ich kann es aus seiner Perspektive auch verstehen. Denn er kämpft natürlich auch um sein eigenes Überleben. Er weiß, dass er nur existiert, solange ihn seine Mutter oder andere Familienmitglieder wahrnehmen. Gabe kann aber gar nicht selbst entscheiden, wann er gesehen und gehört wird. Er muss die schwachen Momente der anderen abwarten und diese ausnutzen. Natürlich ist es sehr tragisch, dass er gleichzeitig Nähe und Liebe zu seiner Mutter sucht und umso mehr er diese einfordert, umso mehr reißt er seine Mutter aus dem eigenen Leben und stürzt sie ins Chaos, und er ist bereit, bis ans Äußerste zu gehen.
Was empfindest du an der Stelle, als dein Vater Dan Diana zur Seite nimmt und ihr erklärt, dass ihr Sohn vor 17 Jahren starb?
Ich persönlich kann mich an dieser Stelle gar nicht so gut auf die Szene konzentrieren, weil ich genau in diesem Moment mit einem Fluggeschirr 10 m in die Höhe gezogen werde. Mein nächster Auftritt ist nämlich von einer oberen Plattform ins Bühnenbild, die man nur mit dem Seilzug erreichen kann, wenn man nicht gesehen werden will. Das ist immer ein bisschen absurd, wenn auf der Bühne gerade diese sehr stille und emotionale Szene gespielt wird und ich im Hintergrund für niemanden sichtbar durchs Theater fliege.Aber für die Rolle Gabe ist dies ein entscheidender Moment im Stück. Denn erst nach diesem Moment fängt er an, richtig ins Geschehen einzugreifen und stärker um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu kämpfen.
Die New York Times hat geschrieben, es sei mehr als ein „Feel-Good-Musical – es ist ein Feel-Everything-Musical!“ Empfindet ihr das auch so?
(Aisata): Das ist eine gute Beschreibung. Dieses Musical handelt von Trauer und Verlust, davon, sich unsichtbar und ungehört zu fühlen, aber auch von Kraft, Ausdauer und Liebe. Aber vor allem geht es um Hoffnung. „Feel-Everything“ ist daher genau zutreffend und so erlebe ich es selbst auch jedes Mal, während ich durch Dianas Reise gehe.
(Judith): Auf jeden Fall! Von Freude, Liebe, Spaß, Wut bis zu tiefster Trauer ist wirklich alles dabei. Auch das Publikum bekommt am Abend all diese Emotionen mit.
(Philipp): Für uns Darsteller auf der Bühne ist auf jeden Fall jede Vorstellung ein „Feel everything“- Erlebnis. Es gibt viele lustige, schnelle und aufregende Momente im Stück, die viel Spaß machen. Aber schon während der Proben ist stark aufgefallen, dass es Szenen gibt, in denen man sich den Emotionen einfach nicht entziehen kann. Vor allem im zweiten Akt wird es sehr emotional und wir haben alle schnell gemerkt, dass diese Emotionen von ganz alleine übernehmen und man sich nur nicht darin verlieren darf. Ich denke diese Achterbahn, die wir erleben, spürt das Publikum gleichermaßen, wenn nicht sogar noch intensiver.
Was bedeutet Glück für euch?
(Aisata): Es klingt klischeehaft, aber nach einer Pandemie und angesichts dessen, was gerade auf der Welt vor sich geht, würde ich sagen, Glück bedeutet für mich Gesundheit, ein Dach über dem Kopf zu haben und von Menschen mit „good vibes“ und Liebe umgeben zu sein. Eine Welt mit weniger Verurteilung und mehr Liebe.
(Judith): Glück bedeutet für mich Singen und das wundervolle Leben, welches ich mit großartigen Menschen erleben darf.
(Philipp): Ich denke, dieses Stück hat eine sehr schöne Antwort. Es gibt nicht das perfekte Leben und das perfekte Glück. Die Suche nach dem Glück ist eine extrem individuelle Reise für jeden von uns. Und unsere Aufgabe ist es, die Reise anzutreten und auf die Suche zu gehen, was Glück für uns selbst bedeutet. Für mich hat Glück viele Gesichter: ein Besuch bei meinen Eltern, ein Spieleabend mit Freunden, Zeit verbringen mit meinem Neffen, eine Vorstellung spielen, in der man so richtig aufblühen kann.